Politik

Grüner sieht Freiheit bedroht Eine Kinder-Lektion brachte Habeck zur Kanzlerkandidatur

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Beinahe einstimmig bestimmen die Grünen Robert Habeck zu ihrem Kanzlerkandidaten. Der wird in seiner Bewerbungsrede sehr grundsätzlich. Zudem verspricht er Verbrauchern und Unternehmern möglichst niedrige Strompreise - und gibt Einblicke in seine Wahlkampfstrategie.

Robert Habeck ist am Ziel: Er ist Kanzlerkandidat von Bündnis90/Die Grünen. Zur Mittagszeit sagte Annalena Baerbock den entscheidenden Satz: "Robert, die Bühne gehört dir." Mit derselben Formulierung hatte Habeck im Frühjahr 2021 die heutige Außenministerin zur Kanzlerkandidatin seiner Partei ausgerufen. Zwei Stunden nach Baerbocks Auftritt zog eben jene Partei nach: Mit 96,84 Prozent stimmten die mehr als 600 in Wiesbaden versammelten Delegierten der Spitzenkandidatur des 55-Jährigen zu. In der Zwischenzeit hielt Habeck eine einstündige, sehr grundsätzliche Bewerbungsrede. Darin rief er den anstehenden, vorgezogenen Bundestagswahlkampf zu nicht weniger als einem Kampf um die Freiheit und Selbstbestimmung aller Menschen in Deutschland aus.

Seine Kandidatur sei ein Angebot an die Menschen, machte Habeck klar. Er wisse um die Umfragen, aber wenn die Wählerinnen und Wähler das wollten, stehe er als Bundeskanzler zur Verfügung. Dafür bräuchte es aber schon gewaltige Verschiebungen in den aktuellen Umfragewerten. Die Grünen sind knapp zweistellig und außer der SPD will keine Partei mit ihnen koalieren. "Ich will nicht als der Besserwisser dem Land sagen, was alle zu denken haben", erklärte Habeck. Ihm gehe es um die Verantwortung in denkbar schwierigen Zeiten.

Vier Bedrohungen für das Land

Die freiheitlich-tolerante Gesellschaft stehe "unter Druck wie selten zuvor", sagte Habeck und machte gleich vier Bedrohungen aus: Angriffe von außen, Angriffe von innen, die Klimakrise und sich breitmachende Resignation. Die Bedrohung von außen seien die autoritären Regime, die freiheitliche Staaten offensiv bekämpften - beispielhaft zu sehen am russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Große Koalition aus Union und SPD, auch Groko genannt, habe diese Bedrohung nicht sehen wollen. "Die Groko hat uns wissentlich und willentlich in diese Abhängigkeit getrieben", sagte Habeck über den schwierigen abrupten Ausstieg aus der deutschen Gas-Abhängigkeit, den er als Bundeswirtschaftsminister bewältigt habe.

Der Angriff von innen geschehe durch "Populismus und Polemik", die das Sprechen in der Gesellschaft unmöglich machten. Es werde "Lautstärke mit Meinung verwechselt", klagte Habeck und machte dies auch an den Migrationsdebatten fest. "Meistens wird die Diskussion so falsch geführt, dass immer Populisten gewinnen", sagte Habeck unter Verweis darauf, dass die 1,2 Millionen ukrainischen Flüchtlinge ja nicht von sich aus nach Deutschland gekommen seien, sondern wegen Wladimir Putin. "Wir sollten doch nicht glauben, dass die Menschen das Problem sind", forderte Habeck, stärker Fluchtursachen in den Blick zu nehmen.

Habeck will Strom so günstig wie möglich machen

Die dritte Bedrohung für die Freiheit sei die Klimakrise. Der Erde sei das Klima egal. "Es geht um das Leben der Menschen, es geht um die Freiheit der Menschen und um ihre Würde", die durch die drastischen klimatischen Veränderungen bedroht sind. Habeck kündigte ein zentrales Wahlkampfversprechen seiner Partei an: "Die Stromkosten so günstig machen, wie es irgendwie geht". Dafür müsse Deutschland auch Schulden aufnehmen. "Es nicht zu tun, nimmt den kommenden Generationen die Möglichkeit, ihr Leben einigermaßen selbstbestimmt zu führen."

Habeck will noch andere zur Finanzierung der Umstellung auf günstige erneuerbare Energien heranziehen: "Warum sollten die Öl- und Gaskonzerne, die astronomische Summen in den vergangenen Jahrzehnten verdient haben, nicht ihren Beitrag leisten, die Schäden wieder auszugleichen?", fragte Habeck. Zudem sollten auch große Vermögen stärker herangezogen werden. Am Vortag haben sich die Grünen bei ihrer Bundesdelegiertenkonferenz auf ein Konzept für eine Vermögens- und Erbschaftssteuer verständigt, das auch in das Bundestagswahlprogramm einfließen wird. Dieses wollen die Grünen bei einem gesonderten Parteitag im Januar beschließen.

Habeck erwog Rückzug

"Es gibt eine vierte Bedrohung der Freiheit", führte Habeck in der frei gehaltenen Rede, ganz ohne Manuskript oder Teleprompter, aus. "Diese Gefahr für Selbstbestimmung und Freiheit und Demokratie ist Resignation und Rückzug." Die Gründe für diesen Reflex seien verständlich: "die hohe Inflation, die privaten Sorgen, das Schreien und Brüllen in der politischen Debatte, die außenpolitische Lage, der Antisemitismus, der in Deutschland und weltweit stärker geworden ist, das fürchterliche Leiden der Menschen im Gazastreifen und auch im Libanon, die vielen Toten".

Aus dem Reflex, sich zurückzuziehen, leitete Habeck seine Motivation zur Kanzlerkandidatur ab: Er wolle "offen sagen, dass auch ich über Rückzug nachgedacht habe". Darüber habe er sich im Sommer mit Vertrauten besprochen. "Ich weiß, dass auch ich Vertrauen verloren habe und dass die Debatten der letzten Tage natürlich einen Schaden hinterlassen haben." Habeck meinte das Platzen der Ampelkoalition und die seither tobende Schlammschlacht darüber, wer das Ampel-Aus zu verantworten hat. Er habe schließlich beschlossen, "nicht zu kneifen".

Sein Sohn habe ihn beim Baden im Sommer daran erinnert, wie Habeck einst seinen vier Kindern das Schwimmen beibrachte. Dabei habe er einmal zu seinem Sohn gesagt: "Du musst dich bewegen, sonst gehst du unter." Er wolle sich weiter bewegen - und dabei lernen. Auch aus seiner größten politischen Krise im Amt des Bundeswirtschaftsministers: dem Zustandekommen des Heizungsgesetzes.

Ein "Damoklesschwert" namens Heizungsgesetz

"Wie ein Damoklesschwert schwebt über dem Wahlkampf das Gebäudeenergiegesetz", sagte Habeck. Am Anfang dieses Gesetzes stehe aber das Versagen der anderen. "Wie kann man eigentlich, wie es die Groko gemacht hat, Beschlüsse fassen, dass Deutschland 2045 klimaneutral sein soll und den Einbau von Gasheizungen immer weiter fördern?", fragte Habeck. Sein Heizungsgesetz habe den Menschen viel zugemutet und über dessen Zustandekommen sei viel Vertrauen verloren gegangen - "auch in meine Person".

Inzwischen komme die Wärmeplanung der Kommunen gut voran und auch die Förderbescheide für klimafreundliche Heizungen liefen. Der Grund: Er habe die Kraft gefunden, zu lernen und zuzuhören - und das Gesetz angepasst. Habeck verknüpfte damit das Versprechen, für einen "anderen Stil in einer anderen Politik" einzutreten. Eine Politik, die die Fähigkeit zur Korrektur als Stärke begreife. Eine Vorausschau darauf, wie Habeck mit seinem größten Makel im Wahlkampf umzugehen gedenkt: offensiv.

Wahlkampf am Küchentisch

"Es gibt Hoffnung zuhauf, noch und nöcher", sagte Habeck gegen Ende seiner Rede unter immer weiter anschwellendem Applaus. Schließlich stand der ganze Saal auf den Beinen. Die Grünen demonstrierten im Bewusstsein um die viele Aufmerksamkeit, die diesem Moment zukommt, möglichst große Entschlossenheit und Zuversicht. All die Kritik, gerade vom linken Flügel der Partei, an Habecks Kandidatur soll möglichst vergangen und vergessen sein.

Statt umgehend über den Antrag abzustimmen, der Habeck als Kanzlerkandidaten festlegt, lud Habeck im Saal zum Küchentisch-Gespräch mit nach Losverfahren ausgewählten Delegierten. Am Küchentisch sitzend hatte Habeck eine Woche zuvor seine Kanzlerkandidatur angekündigt. Mit Küchentisch-Gesprächen will er im Wahlkampf durchs Land ziehen. Aus der Partei ist zu hören, es gebe eine vierstellige Zahl von Einladungen an Habeck, sich zu den Menschen in die Küche zu setzen. Auf dem Parteitag konnten die Teilnehmenden so ihre Fragen an Habeck richten - und ihm aus ihrem Leben erzählen.

Dann erst wurde abgestimmt - mit dem erwarteten Ergebnis von beinahe hundertprozentiger Zustimmung zur Kanzlerkandidatur. Als Habeck 2021 nach langem Ringen die Kanzlerkandidatur Baerbock überlassen musste, machte er nachher keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. So gerne wollte er damals die Kandidatur übernehmen. Zumal 2021 die Chancen für die Grünen, tatsächlich ins Kanzleramt einzuziehen, so viel größer waren. Nun ist Habeck verspätet am Ziel, hat seiner Kandidatur aber dafür eine neue Mission verpasst: Er ist nun ein Freiheitskämpfer. Befreit von den Dämonen der Vergangenheit hat er sich an diesem Sonntag schon einmal.

Quelle: ntv.de

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