
Der "Tag des Wissens" in einem Luftschutzkeller in Odessa. Die Kinder sind aus anderen Gegenden in der Ukraine in die Schwarzmeerstadt geflohen.
(Foto: picture alliance / AA)
In der Ukraine hat die Schule wieder begonnen, weiter vornehmlich online. Die ukrainische Deutschlehrerin Karina Beigelzimer erzählt von Sorgen und Ängsten. Von kleinen Glücksmomenten und tiefer Rührung.
Um ehrlich zu sein, habe ich, anders als sonst, diesem neuen Schuljahr mit sehr gemischten Gefühlen entgegengesehen. Ich denke, das wird für uns alle, Lehrer, Schüler, Eltern, ein sehr, sehr schwieriges Schuljahr. Das schwierigste überhaupt.
Hier in Odessa haben 97 Prozent der Eltern gegen den Präsenzunterricht gestimmt. Was ich verstehen kann, wir haben immer wieder Luftalarme und manchmal auch Einschläge. Die Eltern haben Angst, sie fühlen sich sicherer, wenn die Kinder von zu Hause aus lernen.
Generell gilt, dass nur Schulen mit einem Luftschutzkeller Präsenzunterricht machen dürfen. Landesweit verfügen nur 40 Prozent der Schulgebäude über diese Einrichtung. In meiner Schule gibt es in einem der Gebäude einen Luftschutzkeller, und dort findet auch der einzige Präsenzunterricht statt: für eine der zwei 1. Grundschulklassen.
Dass wir in einem Ausnahmezustand leben, hat schon der erste Schultag gezeigt. Normalerweise ist der Tag des Wissens, so nennen wir ihn, ein großes Fest. Die Schüler sind schön angezogen, überall hängen bunte Luftballons und es gibt Musik. Dieses Jahr fiel alles aus.
Viele beschädigte und zerstörte Schulen
Dafür haben die Schüler der 8. Klasse der Klassenlehrerin und mir einen schönen Moment beschert. Sie haben uns zu einem Kaffee im Lokal gegenüber der Schule eingeladen. Wobei man auch hier spüren konnte, dass alles anders ist. Normalerweise ist dieses Café bei Schulbeginn voll. Diesmal gab’s genügend Platz. Trotzdem war es schön. Die Schüler waren glücklich, sich wieder zu treffen, und ich hatte das Gefühl, für eine Weile wieder frei atmen zu können.
Im Vergleich zu anderen Städten und Ortschaften sind die Schulen in Odessa bis jetzt glimpflich davongekommen. Ich habe unlängst eine Statistik gelesen, in der es hieß, dass im ganzen Land mehr als 2000 Schulen beschädigt und über 260 vollkommen zerstört wurden. Und dann gibt es noch die Schulen, die sich in den besetzten Gebieten befinden.
Natürlich ist Online-Unterricht immer noch besser als überhaupt kein Unterricht. Nach zwei Jahren Pandemie und mehr als einem halben Jahr Krieg mangelt es nicht an Möglichkeiten und Instrumenten, ihn sachgerecht durchzuführen. Vor allem in den Städten. Auf dem Land hinkt die schnelle Internetverbindung noch etwas nach. Auf jeden Fall gibt es unzählige Plattformen, über die man Unterricht machen kann, sowie die Möglichkeit, für diejenigen, die die Schulbücher nicht abholen können - bei uns sind sie gratis - diese herunterzuladen. Das ermöglicht auch Schülern, die sich jetzt im Ausland befinden, dem Unterricht beizuwohnen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer über den Computerbildschirm eine ganz andere ist. Ich würde sie als künstlich bezeichnen. Und das spüre nicht nur ich, sondern auch die Schüler.
Vor ein paar Tagen ist eine meiner Schülerinnen in unsere Schule gegangen, um sich aus der Bibliothek ein paar Bücher zu holen. Da sie schon dort war, hat sie die Gelegenheit genutzt, Fotos von den Fluren und den Klassen zu machen und dann auf unsere Plattform zu stellen. Ich habe sie gefragt, warum sie das gemacht hat. "Damit wir unsere Schule, wie sie aussieht, nicht vergessen." Das hat mich zutiefst gerührt. Das muss man sich vorstellen: Klassen und Flure für seine geflüchteten Mitschüler zu fotografieren.
Kinder des Krieges
Viel Aufmerksamkeit wird auch den Sicherheitsvorkehrungen im Fall von Flugalarm und Angriffen geschenkt. Vor allem die Schüler in Präsenzunterricht, aber nicht nur, werden darüber belehrt, was im Fall einer solchen Situation zu machen ist.
Das ist natürlich gut und wichtig, nichtsdestotrotz stimmt es mich traurig. Das ist alles so schrecklich, weil das Kinder des Krieges sind. Was jetzt heranwächst, ist eine traumatisierte Generation, und ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis diese Narben verheilen. Und wer weiß, wie lange dieser Krieg noch andauert.
Für alle Schüler, die jetzt im Ausland sind, wird das, was sie dort absolvieren, bei der Rückkehr in die Ukraine anerkannt. Prüfungen wird es nur in Fächern geben, die sie nicht gehabt haben, zum Beispiel in Ukrainisch und Geschichte. Auch Homeschooling ist vorgesehen. Wer diese Alternative gewählt hat, muss zweimal im Jahr eine Prüfung ablegen.
Und apropos Lehrfächer. Was Literatur, besser gesagt ausländische Literatur betrifft, wurden die russischen Schriftsteller aus dem Programm genommen und mit Autoren aus anderen Ländern ersetzt. Auch der Geschichtsunterricht ist mehr als vorher auf die Geschichte der Ukraine fokussiert.
Wie gesagt, ich denke, uns steht das härteste Schuljahr bevor, das wir je erlebt haben. Und ich wünsche allen Schülern, Eltern, Lehrern die nötige Ausdauer und, dass sie den Mut nicht verlieren, denn ohne Mut ist es sehr schwer zu leben.
Quelle: ntv.de