Enthauptungen, Gewalt, Flucht In Mosambik entsteht ein IS-Kalifat
22.01.2021, 14:24 Uhr
Die ankommenden Flüchtlinge berichten von Gräueltaten.
(Foto: Helvisney Cardoso, UN Mozambique)
Im ostafrikanischen Mosambik nehmen islamistische Rebellen große Teile einer Provinz ein, an deren Küste riesige Offshore-Gasfelder liegen. Mit unfassbar grausamen Angriffen vertreiben sie die Bevölkerung und internationale Investoren.
"Das geht nicht! So kann es nicht weiter gehen", sagt der UNHCR-Chef für das südliche Afrika, Valentin Tapsoba. "Die internationale Gemeinschaft kann die Lage in Cabo Delgado nicht mehr ignorieren." Der Südafrikaner wirkt aufgebracht. "Ich habe so etwas Schlimmes noch nie gesehen. Jeden Tag kommen neue Binnenflüchtlinge an", sagt Tapsoba bei einer digitalen Pressekonferenz mit internationalen Journalisten. Es ist ein verzweifelter Versuch zu Corona-Zeiten, Aufmerksamkeit auf einen Konflikt im südostafrikanischen Mosambik zu lenken, der in der nördlichen Hemisphäre bisher keine Augenbraue hat zucken lassen. Im Kern geht es um Terrorismus, Ressourcen und viel Geld. Und wie so oft sind die Ärmsten der Armen die Leidtragenden.

Die Hilfsorganisationen schaffen es nicht, alle Menschen zu versorgen.
(Foto: Helvisney Cardoso, UN Mozambique)
560.000, also über eine halbe Million der zwei Millionen Einwohner der Provinz Cabo Delgado, wurden seit dem Beginn grausamer Terrorattacken im Oktober 2017 vertrieben. Zum Vergleich: In Griechenland befinden sich derzeit laut UNO Flüchtlingshilfe 119.500 Flüchtlinge und Migranten. "Die Situation in Cabo Delgado ist eine Katastrophe", sagt Tapsoba. Die Hintergründe sind vielschichtig und die Informationen über die Angreifer unübersichtlich.
Anfang 2020 gab es in Cabo Delgado nur 90.000 Binnenflüchtlinge. "Das zeigt, die Situation eskaliert", meint Myrta Kaulard, ständige Koordinatorin der Vereinten Nationen in Mosambik. "Die Menschen erzählen von Enthauptungen, schrecklicher Gewalt", berichtet die Italienerin. "Die meisten Flüchtlinge sind traumatisiert, vor allem die Frauen. Viele berichten von Verwandten, die spurlos verschwunden sind." Mitarbeiter der Vereinten Nationen hätten keinen direkten Zugang zu der Krisenregion mehr, fügt Kaulard hinzu. "Es ist zu gefährlich, sie mit Hilfsgütern dorthin zu schicken, und ehrlich gesagt, unsere Möglichkeit zu helfen, ist ohnehin sehr eingeschränkt. Wir haben kein Geld." Auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) hat laut Regionaldirektorin Lola Castro keinen Zugang zu den westlichen und südlichen Gebieten der Provinz mehr.
Gerüchte über Angreifer
Cabo Delgado im Nordosten Mosambiks, an der Grenze zu Tansania gelegen, ist den meisten Europäern wohl unbekannt. Vielleicht weckt aber der Name der Provinzhauptstadt Pemba Erinnerungen. Die Hafenstadt wurde im April 2019 schwer von dem Tropensturm "Kenneth" beschädigt. Über 600 Menschen starben. Zwei Jahre später fliehen Tausende in das immer noch beschädigte Pemba sowie in nahe liegende, nur rudimentär eingerichtete Flüchtlingslager.
Lange war unklar, wer hinter den grausamen Attacken steckt. Die Angreifer zeigen ihre Gesichter nicht, wenn sie Dörfer ausrauben. Lange gingen wilde Gerüchte um, genährt von Spekulationen über die neu entdeckten, riesigen Gasfelder. Die französische Ölgesellschaft Total ist einer der Hauptinvestoren. Aber auch die nordamerikanische Gesellschaft Anadarko Petroleum und die italienische ENI sowie kleinere europäische Unternehmen wollten investieren. 2023 sollten die Explorationen beginnen, ein 20,6-Milliarden-Euro-Projekt. Jetzt hat Total seine ausländischen Mitarbeiter aus Mosambik abgezogen. In der nahen Umgebung der Total-Anlagen war es immer wieder zu Attacken gekommen.
Die meisten Angriffe sind Anhängern der islamistischen Gruppierung Ahlu Sunnah Wal Jammah (ASWJ), der "Jünger der Tradition des Propheten", zuzuschreiben. Spätestens seit dem Auftauchen eines Videos Anfang vergangenen Jahres, auf dem Kämpfer mit Flaggen des sogenannten Islamischen Staats posieren, ist eine Verbindung zu dieser Terrorgruppe bestätigt. Der hat inzwischen auch für zahlreiche Angriffe in Cabo Delgado Verantwortung übernommen. Vielleicht einzigartig an der Situation ist die Abwesenheit eines Anführers oder eines Manifestes. Die Strategie scheint tatsächlich so einfach wie grausam zu sein: die Region mit brutalen Angriffen zu leeren, um mit den wenigen, die bleiben wollen, ein Kalifat aufzubauen.
Immer mehr Kontrolle
Mosambiks Regierung hat die Kämpfer lange als Macheten schwingende Banditen beschrieben und machtlos zugesehen, wie ihr die Kontrolle über große Teile der Provinz verloren ging. Die Nachricht von einem schrecklichen Massaker, bei dem Bewohner des Dorfes Muatide auf einem Platz enthauptet wurden, stellt sie als unwahr dar. In den Flüchtlingslagern berichten jedoch viele Menschen davon. Die Terroristen kontrollieren inzwischen wichtige Versorgungsstraßen, Wasserwege und strategische Städte in Cabo Delgado und haben erste Dörfer im grenznahen Tansania angegriffen.
Der UNHCR-Chef für das südliche Afrika war mit einer Delegation anderer UN-Organisationen im Dezember persönlich in Cabo Delgado. "Es gibt nicht genug zu essen", berichtet Valentin Tapsoba. Auch Wasser sei knapp. Die meisten Flüchtlinge kämen bei Familien in sicheren Gebieten unter. Meist seien es keine Familienangehörigen. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sei unfassbar groß. "Manche Familien nehmen bis zu 60 Flüchtlinge auf", sagt Tapsoba. Viele haben bei der überstürzten Flucht ihre Ausweispapiere nicht mitgenommen. Ohne die können Kinder aber nicht zur Schule gehen. "Es besteht die Gefahr, dass eine ganze Generation hier keinen Zugang zu einer Ausbildung haben wird."
"Die internationale Gemeinschaft muss die Regierung von Mosambik bei der Wiederherstellung der Sicherheit in Cabo Delgado unterstützen", fordert Alessandra Casazza, Beraterin für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Auch WFP-Regionalchefin Castro sieht dringenden Handlungsbedarf: "Wir müssen Hilfe aufstocken." Denn ohne Geld von der internationalen Gemeinschaft und ohne den Willen der mosambikanischen Regierung, den Konflikt anzugehen, stehen die Menschen in Cabo Delgado allein da.
Quelle: ntv.de