Besuch bei Kiews Elite-Brigade "Jetzt geht es um das Überleben der Nation"


Leo (l.) und Maloj werden derzeit für ihren Einsatz in der dritten Sturmbrigade trainiert.
(Foto: Janis Peitsch)
Die dritte Sturmbrigade präsentiert sich als Elite-Verband der ukrainischen Streitkräfte. In Kiew betreibt die Freiwilligeneinheit eines von insgesamt drei Rekrutierungszentren. Vor allem junge Menschen zieht der Verband an. Ein Ortsbesuch.
Wer in diesen Tagen mit dem Auto durch Kiew fährt, kann sie kaum übersehen: Große Plakatwände werben an allen wichtigen Verkehrsstraßen der Metropole für den Dienst in der dritten Sturmbrigade. Die reguläre Freiwilligeneinheit der ukrainischen Armee pflegt den Ruf, ein Elite-Verband zu sein. Im vergangenen Sommer spielte die Brigade eine prominente Rolle bei der Gegenoffensive im Raum Bachmut. Nach dem Fall von Awdijiwka Mitte Februar deckte sie den Rückzug der ukrainischen Verteidiger. Am Stadtrand von Kiew unterhält der Verband ein Rekrutierungszentrum. Bereits am frühen Morgen wartet ein Dutzend junge Männer und Frauen vor den Toren, um sich für den Kampf gegen die russischen Invasoren einzuschreiben.
"Wir suchen nach Menschen, die den Willen haben, ihre Familie und ihr Land zu verteidigen", sagt der Leiter des Rekrutierungszentrums, Danylo Kowal. "Dabei bieten wir eine große Bandbreite an Jobs, vom Mechaniker über den Logistiker bis hin zum Drohnenpiloten und Sturmsoldaten." Vor allem in den sozialen Netzwerken sei die Suche nach Nachwuchs erfolgreich. Der Telegram-Kanal der Brigade hat fast 300.000 Follower und veröffentlicht regelmäßig Videos von Einsätzen im Kampfgebiet.
Insbesondere junge Menschen zieht der Verband an. Das Durchschnittsalter der Rekruten liege zwischen 23 und 25 Jahren, heißt es. Offizielle Zahlen über das Durchschnittsalter in der ukrainischen Armee gibt es nicht. Laut Medienberichten liegt es bei über 40 Jahren.
Größe der Sturmbrigade ist geheim
Gegründet wurde die dritte Sturmbrigade Ende 2022 durch den Zusammenschluss mehrerer Spezialeinheiten, bestehend aus ehemaligen Kämpfern des Regiments Asow. Das Regiment, welches 2014 als irreguläre Miliz von Freiwilligen aufgestellt wurde, hatte in seiner Anfangszeit auch Rechtsextremisten in seinen Reihen. Mit der Integration der Einheit in die Nationalgarde im darauffolgenden Jahr nahm deren Einfluss stetig ab. Laut Experten spielen heutzutage politische Ideologien weder bei der dritten Sturmbrigade noch beim Asow-Regiment, das Anfang 2023 als Brigade neu formiert wurde, eine Rolle.
Zu den alten Kämpfern zählt auch der Ausbilder mit dem Rufnamen Wyschnja. Bei der Verteidigung Mariupols geriet er als Soldat in russische Kriegsgefangenschaft, später wurde er ausgetauscht. Jetzt bringt er als Fitnesstrainer die Rekruten der Sturmbrigade in Form.
"Wir haben sehr viele Erfahrungen in diesem Krieg gesammelt", versichert Wyschnja. Diese würden auch in die Grundausbildung der Rekruten fließen. "Krieg bedeutet Evolution", mahnt der Veteran - eine ständige Weiterentwicklung. Über seine Zeit in russischer Gefangenschaft will Wyschnja nicht öffentlich sprechen. Aus Sorge um seine Kameraden, von denen sich noch viele in russischen Händen befinden.
Je nach Typ dauert die Ausbildung eines Rekruten zwei bis drei Monate. Weit mehr als 5000 Soldaten dienen laut Kowal in der Einheit. Die genaue Zahl ist Geheimsache. "Jeden Tag kommen im Schnitt zehn Bewerber zu uns", sagt er. "Nach russischen Luftangriffen sind es häufig mehr." Wichtigstes Kriterium für die Aufnahme in die Brigade sei die Motivation der Anwärter. Laut Wyschnja melden sich daher ganz unterschiedliche Charaktere bei der Einheit. Sie alle eine ihre patriotische Einstellung.
Vom besetzten Luhansk in die Hauptstadt
Der Rekrut mit dem Spitznamen Maloj wird seit Januar auf den Kriegseinsatz vorbereitet. Bald wird er das Training beenden. "Ich möchte gerne Sturmsoldat oder Maschinengewehrschütze werden", sagt er. Maloj stammt aus der seit 2014 von Russland besetzten Stadt Luhansk im Donbass. Vor drei Jahren flüchtete er aus seiner Heimat. "Zu meiner Familie habe ich keinen Kontakt mehr", betont der 22-Jährige. "Sie ist prorussisch." Seine Mutter kollaboriere sogar mit den Besatzern. "Ich wollte kein Teil davon sein."
Die Menschen in den besetzten Gebieten seien ständiger russischer Propaganda ausgesetzt. Viele von ihnen seien "gehirngewaschen", so Maloj. Russland sage, dass es nicht nur die ukrainische Armee eliminieren wolle, sondern auch die ukrainische Nation. "Zunächst war es ein Konflikt um die Regionen Luhansk und Donezk", sagt er über die Anfänge des Krieges im Jahr 2014. "Jetzt geht es um das Überleben der Nation."
"Leider wird der Krieg noch lange dauern"
Im Gegensatz zu Maloj ist die Rekrutin Leo erst seit einem Monat im Training. Später will sie als Militärsanitäterin dienen. Die 23-Jährige arbeitete zuvor im Marketing-Bereich. Über ihre Beweggründe, zum Militär zu gehen, sagt sie: "Ich war gelangweilt von meinem Job, weil dieser nichts zum Widerstand gegen Russland beigetragen hat." Ihre Mutter sei stolz auf sie. Der Vater habe ihre Entscheidung zunächst abgelehnt. Mittlerweile unterstütze aber auch er ihren Weg.
Weder Leo noch Maloj erwecken den Eindruck, als hätten sie Angst vor Tod oder Verwundung im Kriegsgebiet. Dabei ist die Gefahr real. Im Februar gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt, dass bislang 31.000 ukrainische Soldaten im Kampf gefallen seien. Die Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen, doch Experten gehen davon aus, dass die Verluste höher sind. Hinzu kommt die russische Übermacht an Mensch und Material. Wegen des Personalmangels wollen Kiews Militärplaner in diesem Jahr 450.000 bis 500.000 neue Soldaten rekrutieren. Doch Selenskyj steht den Plänen kritisch gegenüber.
"Mein Traum ist es, weiterhin in der Ukraine zu leben und zu arbeiten, ohne Angst zu haben, dass man auf uns schießt oder die Nation bedroht wird", sagt Leo. Ihr Mitstreiter hofft, in der Zukunft nach Luhansk zurückkehren zu können, wenn die Stadt befreit ist. Aktuell scheint der Wunsch in weiter Ferne, Moskaus Streitkräfte haben an der Front die Initiative übernommen. "Leider wird der Krieg noch lange dauern", meint Maloj.
Quelle: ntv.de