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Freizeitparks, Englisch, Studium Kabul infiziert erste Taliban mit Lebenslust

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Taliban-Mitglieder beim Feiern im August 2023, anlässlich des zweiten Jahrestags ihrer Machtübernahme.

Taliban-Mitglieder beim Feiern im August 2023, anlässlich des zweiten Jahrestags ihrer Machtübernahme.

(Foto: REUTERS)

Zweieinhalb Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban hat sich die Lage in Afghanistan für viele Frauen massiv verschlechtert. Doch der Großstadtdschungel von Kabul beginnt, die ersten Taliban-Kämpfer zu verändern.

Die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan hatte für die Menschen im Land nichts Gutes. Sie hungern und werden unterdrückt, Frauen haben nur noch wenige Rechte. Die Taliban haben Afghanistan wieder Richtung Steinzeit katapultiert, kommentierte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Herrschaft der Terroristen.

Kurz nach dem Umsturz im August 2021 hatten einzelne Stimmen gehofft, die Taliban würden mittlerweile vielleicht gemäßigter auftreten. Es sollte nicht mehr als ein frommer Wunsch bleiben. "Ich begreife nicht, woher die Hoffnung kam, dass die Taliban sich geändert oder gar verbessert haben", wird etwa eine Frauenaktivistin von der Deutschen Welle zitiert. Man habe wenige Wochen vor der Machtübernahme bereits darauf hingewiesen, wie sehr die Taliban Frauenrechte verachten. "Doch niemand wollte auf uns hören."

Und dennoch scheint es in Kabul einzelne Hoffnungsschimmer zu geben. Viele Taliban-Kämpfer hätten in der Hauptstadt "die Vorzüge des städtischen Lebens zu schätzen gelernt", schreibt die "Washington Post" in einer Reportage. Die US-amerikanische Zeitung berichtet von Freizeitparkbesuchen an Wochenenden, Taliban-Kämpfern, die Cricket-Spiele schauen, Selfies auf Facebook hochladen, Englisch lernen und so wirken, als wären sie "genauso begierig darauf, im Ausland zu studieren wie andere Studenten". Wer verändert hier wen, fragt die Zeitung: die Taliban Kabul oder doch Kabul die Taliban?

"Sie wussten nichts über unsere Kultur"

Manch einer der Terroristen würde sogar die Konsequenzen des Feldzugs bedauern, heißt es weiter. Viele Soldaten seien enttäuscht von Kabul. Das Leben in der Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt ist für sie einsamer, stressiger und weniger religiös, als sie erwartet haben.

Andere Taliban-Mitglieder sollen die Vorzüge des 21. Jahrhunderts dagegen genießen. Internet, Streaming, dicke Autos. Manch ein Afghane habe das Gefühl, die Taliban würden "versuchen, unseren Lebensstil zu übernehmen", zitiert die Zeitung einen Verkäufer aus Kabul. "Sie kamen aus den Bergen, konnten unsere Sprache nicht verstehen und wussten nichts über unsere Kultur".

In der ersten Phase nach dem Sturz der alten Regierung haben die Taliban versucht, alles Westliche zu verbannen: Musikinstrumente wurden zerstört, die Menschen durften keine Jeans und andere westliche Kleidung mehr anziehen. Mittlerweile sehen die Taliban die westliche Lebensweise offenbar weniger bedrohlich: Im Bericht der "Washington Post" kommt ein Afghane zu Wort, der mit seinen Freunden kürzlich an einem Kontrollpunkt von der Taliban durchgewunken wurde, obwohl sie Musik im Auto gehört haben. Für afghanische Verhältnisse durchaus ungewöhnlich.

Apartheid gegen Frauen

Derartige Berichte sind aber bloß Einzelfälle, generell moderater sind die Taliban keineswegs geworden. Vor allem die Frauen merken nichts davon, dass manche der Terroristen angeblich westlicher werden. Sie dürfen in der Öffentlichkeit seit zweieinhalb Jahren nur voll verschleiert herumlaufen, nicht studieren, Frauenrechtlerinnen werden festgenommen, Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen. Die Taliban-Führung habe Afghanistan zum repressivsten Land der Welt für Frauen gemacht, bilanzieren die Vereinten Nationen im dritten Jahr nach der Machtübernahme durch die Terrorgruppe.

Die Dokumentarfilmerin und Initiatorin der Kabul-Luftbrücke, Theresa Breuer, schildert die dramatischen Lebensumstände, insbesondere für Frauen: "Sie dürfen nicht mehr studieren, nicht mehr arbeiten, können nicht mehr zum Einkommen der Familie beitragen. Sie dürfen nicht einmal mehr alleine reisen ohne die Genehmigung eines männlichen Vormunds."

Die Vereinten Nationen bezeichnen die Herrschaft der Taliban über Afghanistan als Apartheidregime gegen Frauen. "Das ist es tatsächlich. Es ist für Frauen ein Leben im Gefängnis geworden", kommentiert Breuer.

Wolkenkratzer in Kabul?

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Die Taliban haben große Pläne mit Afghanistan, wollen am Rande von Kabul eine neue große Stadt bauen, außerdem Einkaufszentren, Parks und Schwimmbäder, manch einer der Terroristen träumt sogar von Wolkenkratzern wie in Dubai. Aber die Frauenfeindlichkeit könnte zum Hindernis werden. Private Investoren aus dem Westen wollen auch aus diesem Grund keine Geschäfte mit dem Regime machen.

Die "Washington Post" fragt deshalb: "Könnte die Verlockung von teuren Wolkenkratzern, imposanten neuen Moscheen und schlaglochfreien Straßen die Taliban zu einem Kompromiss bewegen, wie einige Afghanen hoffen?"

Bisher gibt es abgesehen von einigen Anekdoten einzelner Kabul-Bewohner keinen wirklichen Hoffnungsschimmer. Moderate Afghanen setzen aber weiter darauf, dass die Taliban gemäßigter werden, dass das Leben in der Stadt sie stärker beeinflusst als die Taliban das Stadtleben.

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Quelle: ntv.de

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