Politik

Caritas-Arbeit in der Ukraine "Kiew droht eine humanitäre Katastrophe"

Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellt auch Hilfsorganisationen vor große Herausforderungen. Wie die Arbeit in der Ukraine derzeit aussieht, erklärt Oliver Müller, Leiter von Caritas international. Er spricht zudem über die Hilfe für Flüchtlinge an der Grenze zu Polen - und wie Menschen in Deutschland derzeit am besten helfen können.

ntv: Russland hat vor einer Woche die Ukraine überfallen. Wie schwer ist es, in solch einer Situation zu helfen?

Oliver Müller: Wir hatten uns auf die Krise vorbereitet und drei Szenarien entwickelt. Leider ist die Situation, die dann eingetreten ist, schlimmer als das schlimmste unserer Szenarien. Daher traf uns die Krise zwar nicht ganz unvorbereitet, aber natürlich sind alle Hilfsstellen der Caritas in der Ukraine jetzt ein Stück weit überfordert. Jedoch haben wir mehr als 1000 Mitarbeiter in der Ukraine, die in der Lage sind, etwas zu tun. Sie haben vom ersten Tag an losgelegt, Hilfen aufgebaut und weitergegeben. Sie führen aber auch das weiter, was zuvor schon getan wurde, zum Beispiel die Hilfe für alte und kranke Menschen.

Dr. Oliver Müller ist Leiter von Caritas international.

Dr. Oliver Müller ist Leiter von Caritas international.

(Foto: Caritas international)

Wie konnte die Caritas in der vergangenen Woche konkret helfen?

Zum einen spielt die Verteilung von Dingen des täglichen Lebens, also von Lebensmitteln und Medikamenten, eine ganz große Rolle. Zum anderen ist die Caritas sehr aktiv in der Hilfe für die Hunderttausenden Binnenvertriebenen, die von Osten nach Westen unterwegs sind. Zum Beispiel wurden mehrere Tausend Schlafmöglichkeiten geschaffen. Auch etwa am Bahnhof von Lemberg ist die Caritas aktiv und unterstützt die Menschen.

Die Nächte sind derzeit sehr kalt. Gleichzeitig stehen Menschen stundenlang an der polnisch-ukrainischen Grenze. Wie werden sie versorgt?

Die Situation an der Grenze ist eines der ganz großen Probleme. Die Menschen wollen ja weiter und das Land verlassen, daher bilden sich dort lange Staus. Das ist vor allem für Frauen mit kleinen Kindern, die dort den Hauptteil der Flüchtlinge ausmachen, eine große Belastung. Viele müssen ihr Auto, das sie ja auch vor der Kälte schützt, weit vor der Grenze zurücklassen und weiterlaufen. Sie kommen dann am Ende ihrer Kräfte und auch am Rande ihrer Nerven nach Polen oder in die anderen Länder und werden dort aufgenommen und verpflegt. Wir sind an der Grenze aktiv und verteilen Hilfsgüter, die Situation dort bleibt aber extrem angespannt.

Mittlerweile sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine geflüchtet. Welche weitere Entwicklung erwarten Sie?

Ich erwarte weiterhin eine sehr große Flüchtlingswelle. Aus Erfahrung wissen wir: Die Menschen, die jetzt fliehen, haben die meisten Ressourcen und die meiste Kraft. Unser Augenmerk gilt daher vor allem den Menschen, die nicht in der Lage sind, zu fliehen, zum Beispiel alte Menschen oder Alleinerziehende. Die müssen vor Ort, in der Ukraine, versorgt werden.

Ist diese große Zahl an Flüchtlingen verkraftbar?

Die Zahl der Flüchtlinge klingt groß, ist aber für EU-Maßstäbe klein. Es dürfte kein Problem sein, auch mehrere Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Menschen haben ein Recht darauf, ein vorübergehendes Zuhause zu finden. Wir wissen ja auch aus Gesprächen, dass die allermeisten wieder zurückkehren wollen, wenn es die Situation erlaubt. Was Polen da leistet, ist hervorragend, aber es werden sicherlich auch viele Menschen nach Deutschland kommen. Wir bei Caritas in Deutschland spüren eine sehr große Hilfsbereitschaft. Die Telefone laufen heiß mit Hilfsangeboten von Menschen, die Wohnraum anbieten. Ich bin sehr optimistisch, dass es uns gut gelingen wird, auch eine größere Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine in Deutschland aufzunehmen.

Wie können Menschen in Deutschland derzeit helfen?

Wichtig ist, dass wir jetzt die Helfer und Helferinnen vor Ort nicht überfordern. Wer einen Kontakt in die Ukraine hat, zu einer Schule oder einer Pfarrei etwa, weiß, dass diese eine bestimmte Art von Hilfe benötigen. In solchen Fällen macht es Sinn, auch einen Hilfstransport mit den benötigten Gütern auf den Weg zu bringen. Ansonsten bitten wir nach wie vor um Geldspenden, weil damit in sehr großem Umfang und angepasst geholfen werden kann. Es ist zum Beispiel sinnvoller, Babywindeln aus Polen über die Grenze zu bringen als sie Tausend Kilometer aus Deutschland in Kleinlastwagen zu transportieren. Wir raten dringend davon ab, unabgestimmt und auf eigene Faust Hilfsgüter auf den Weg zu bringen, weil dann die Gefahr besteht, dass sie nicht bei den Bedürftigen ankommen.

Viele Menschen sind nach wie vor in Kiew. Wie ist deren Lage?

Es ist unübersichtlich, und die Lage verschlechtert sich jeden Tag - das sind die Berichte, die wir aus Kiew bekommen. Die Stadt hat ja auch einen sehr hohen Symbolwert. Mir haben Caritas-Mitarbeiter auch aus der Westukraine immer wieder gesagt: "Wenn wir aufstehen, dann schauen wir zuerst: Steht Kiew noch?" Es gibt den Menschen großen Mut, dass die Hauptstadt sich weiter verteidigt. Die humanitären Bedingungen in Kiew verschlechtern sich allerdings. Wenn die Kampfhandlungen sich auf die Innenstadt ausweiten sollten, droht Kiew eine humanitäre Katastrophe, dann werden Menschen ihre Häuser nicht mehr verlassen können und es wird nicht mehr möglich sein, Verletzte zu erreichen. Von daher fordern wir dringend einen humanitären Korridor - das heißt, dass Hilfsorganisationen zu den notleidenden Menschen in den Städten gelangen können. Das ist unbedingt notwendig.

In einigen Städten ist die Situation bereits dramatisch. Wie ist die Lage etwa in der Ostukraine?

Dort ist die Lage katastrophal. Wir hören aus Städten wie Mariupol oder Kramatorsk, dass dort keine Caritas-Arbeit mehr möglich ist, weil schwerer Beschuss und schwere Kriegshandlungen stattfinden. Die Caritas-Teams mussten sich entweder zurückziehen oder die lokalen Mitarbeitenden verschanzen sich zuhause in ihren Wohnungen, so wie das alle anderen auch tun. Das ist extrem bedauerlich.

Wie kann da noch geholfen werden?

Oftmals ist das Einzige, was noch möglich ist, eine telefonische Beratung. Wir hören, dass es einen riesigen Bedarf an psychologischer Begleitung gibt. Dieser Krieg übt eine unglaubliche Stresssituation auf die Menschen aus: Der permanente Beschuss, der Kanonendonner, die Angst um Leib und Leben - für viele ist es schwer, damit klarzukommen, und das kann auch kaum aufgefangen werden. Das spiegelt sich zum Beispiel auch in den Gesichtern der Kinder wider, die derzeit evakuiert werden. Daher werden in den Übergangslagern, in den Flüchtlingsunterkünften auch spezielle Angebote für Kinder aufgebaut, die ihnen erlauben sollen, das Erlebte zu verarbeiten, sofern das überhaupt möglich ist.

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Ist die Caritas-Arbeit für die kommenden Wochen überhaupt planbar?

Die Mehrzahl der 37 Caritas-Stellen in der Ukraine arbeitet noch und kann viel für die Binnenvertriebenen, für die Flüchtlinge tun. Heute Morgen bekam ich die Nachricht, dass in der Stadt Ternopil ein Hauskrankenpflege-Programm, das wir unterstützen, trotz permanenten Sirenenalarms fortgeführt wird. Im Westen der Ukraine sind bisher auch noch Hilfsgüter verfügbar, die verteilt werden können. Die Situation ist aber extrem unüberschaubar und wir müssen abwarten, wie sie sich in den nächsten Tagen entwickelt. Bis jetzt konnten wir die Menschen noch gut erreichen, wir haben auch noch Lager mit Hilfsgütern, die verteilt werden. Aber ich vermute, dass wir künftig stärker auf Hilfsgüter aus dem Ausland angewiesen sein werden.

Sie haben getwittert, dass Deutschland sein humanitäres Engagement in der Ukraine verstärken müsse. Was meinen Sie damit?

Ich kann nicht verhehlen, dass ich die drastische und plötzliche Erhöhung des Rüstungsetats in Deutschland mit einem gewissen Unbehagen sehe, weil ich die Befürchtung habe, dass am Ende des Tages andere Zwecke wie zum Beispiel die Hilfe für Menschen in Notlagen und die Entwicklungshilfe dafür gekürzt werden müssen. Luise Amtsberg, die Bundesbeauftragte für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, hat einen Etat von einer Milliarde Euro für die Ukraine-Hilfe gefordert - dem schließe ich mich an, und ich halte das auch für angemessen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, daran zu erinnern, dass es noch andere Notsituationen auf der Welt gibt, etwa die Dürre am Horn von Afrika oder die Situation in Afghanistan, die nicht aus dem Blick verloren werden dürfen.

Mit Oliver Müller sprach Vivian Bahlmann

Mehr Informationen zur Caritas-Arbeit in der Ukraine finden Sie hier.

Quelle: ntv.de

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