"Es ist mein politischer Tod" Le Pens Schuldspruch verschärft Frankreichs politische Krise


Le Pen muss dem politischen Aus ins Gesicht blicken
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Marine Le Pen darf nach ihrem Schuldspruch nicht an der Präsidentschaftswahl 2027 teilnehmen. Dabei ist sie Favoritin auf den Wahlsieg. Das Urteil wühlt daher nicht nur ihre Unterstützer auf. Das Land diskutiert über Parteigrenzen hinweg über eine politisierte Justiz - und bleibt kaum regierbar.
Über die Tragweite dieses Tages machte sich die französische Chef-Rechtspopulistin Marine Le Pen keinerlei Illusionen: "Es ist mein politischer Tod", sagte die Abgeordnete der Nationalversammlung vor der Urteilsverkündung im Pariser Justizpalast. Sie wusste ja, was ihr im Falle eines Schuldspruchs blüht. Und tatsächlich: Die 56-Jährige wird für fünf Jahre von Wahlen ausgeschlossen. Sie soll zudem für mindestens zwei Jahre in Haft mit Fußfessel, was auch Hausarrest bedeuten könnte. Während die Haftstrafe aber nicht vor Abschluss der bereits angekündigten Berufung vollstreckt wird, gilt der Entzug des passiven Wahlrechts ab sofort. Le Pens bis dato sehr aussichtsreiche Präsidentschaftskandidatur 2027 steht damit in den Sternen.
Das Berufungsurteil könnte zwar zu einer Aufhebung des Wahlausschlusses führen. Ob eine Entscheidung rechtzeitig vor der Wahl im Frühjahr 2027 steht, ist aber äußerst unsicher. Zumal das Rennen um das mächtige Staatsamt schon mehr oder weniger ein Jahr zuvor beginnt. Le Pens Aussichten auf eine Rücknahme des Urteils scheinen zudem gering. "Marine Le Pen wird der Veruntreuung öffentlicher Gelder in Höhe von 474.000 Euro für schuldig befunden", sagte die Vorsitzende Richterin bei der Urteilsverkündung. Sie verhängte gegen Le Pen eine persönliche Geldstrafe von 100.000 Euro. Ihrer Partei drohen bis zu zwei Millionen Euro Strafzahlungen.
Anstatt die EU-Mittel für Mitarbeiter ihres damaligen Abgeordnetenbüros in Brüssel verwendet zu haben, hatte Le Pen nach Überzeugung des Gerichts mit dem Geld Mitarbeiter ihrer Partei Rassemblement National (RN) bezahlt. Der als Front National (FN) von ihrem verstorbenen Vater Jean-Marie Le Pen gegründete RN ist unter Führung seiner Tochter im vergangenen Frühjahr stärkste Partei im Land geworden. Der Rassemblement National stellt die meisten Abgeordneten. Marine Le Pen versammelte bei der Präsidentschaftswahl in der Stichwahl um die Präsidentschaft 2022 rund 42 Prozent der Franzosen hinter sich.
Amtsinhaber Emmanuel Macron entschied das Rennen mit 58 Prozent für sich, darf 2027 nach seiner zweiten Amtszeit aber nicht erneut antreten. So sehr Macron auch Ablehnung erfährt, vor allem an den linken und rechten Rändern Frankreichs: Eine Politikerin oder ein Politiker mit vergleichbarer Zugkraft zeichnet sich in Frankreichs zersplitterter demokratischer Parteienlandschaft nirgendwo ab. Daher galten Le Pens Aussichten bis zum Urteilsspruch im ehrwürdigen Justizpalast als hervorragend. Es wäre die Krönung eines langen Weges gewesen, auf dem sie den RN politisch mittiger positionierte, weg von der Faschismus-Nähe ihres Vaters.
Ersatzkandidat bietet wenig Trost
Ob, wo und wie lange Le Pen in Haft muss, lässt sich vor dem Berufungsverfahren nicht seriös vorhersagen. Dass sie im Rahmen der Berufung auch die Strafe des Wahlauschlusses los wird, erscheint aber unwahrscheinlich: Wer für Korruption oder Untreue verurteilt wird, wird in Frankreich routiniert auch vom Wahlprozess ausgeschlossen. Le Pen bräuchte also einen vollständigen Freispruch, um 2027 zu den présidentielles antreten zu können. Für einen Freispruch aber sind die Geldflüsse aus der EU-Parlamentskasse auf die Konten von Mitarbeitern des Rassemblement National zu gut dokumentiert.
Längst wird in Frankreich spekuliert, ob nun an Le Pens Stelle der aufstrebende Jordan Bardella für das höchste Staatsamt kandidieren könnte. Der 29-Jährige gilt als Kronprinz der Chefin, war ihr Spitzenkandidat bei den Parlamentswahlen im Frühling 2024. Der Mann mit italienischen und algerischen Wurzeln, der in einem sozialen Brennpunkt am Rande Paris' aufwuchs, hat durchaus Erfolgschancen: Er ist in Umfragen populär. Einen Ersatzkandidaten für ihren eigenen großen Traum von der Präsidentschaftschaft zu haben, dürfte Le Pen im Ernstfall aber kaum Trost sein.
Die Freude über das Urteil hält sich auch bei Le Pens politischen Gegnern in Grenzen. Auch Mitstreiter von Macron hatten sich im Vorfeld skeptisch gezeigt, wie weit Richter Einfluss auf Wahlen nehmen sollten. Ihre Sorge: Der Urteilsspruch gegen die Fraktionschefin des RN kann das Land weiter spalten. Nicht nur RN-Politiker und -Unterstützer sprachen nach der Verkündung von einer politisierten Justiz und einem politischen Urteil. Eric Zemmour von der rechtsextremen Reconquete solidarisierte sich nach dem Urteil und beklagte eine "exorbitante Macht" der Justiz in Frankreich. Auch der Vorsitzende der Républicains, dem französischen Äquivalent zu CDU und CSU, Laurent Wauquiez erklärte: "Es ist nicht gesund, dass in einer Demokratie eine gewählte Vertreterin nicht kandidieren darf, und ich finde, dass politische Debatten an der Wahlurne entschieden werden sollten."
Solidaritätsadressen aus Moskau
Noch weiter ging der frühere Republikaner und heutige Vorsitzende der mit dem RN verbündeten UDR, Eric Ciotti: "Das demokratische Schicksal unserer Nation wird durch eine unwürdige Justizkabale beschlagnahmt", schrieb Ciotti auf X. "Die favorisierte Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen wird an der Kandidatur gehindert." Die Spitzenvertreter des konservativen bis rechtsextremen Lagers empören sich nicht frei von Kalkül: Bleibt Marine Le Pen von der Wahl ausgeschlossen, werden sie sich um die Stimmen ihrer Anhänger bemühen.
Zugleich wittert auch das interessierte Ausland seine Chancen: Ungarns autoritärer Regierungschef Viktor Orban solidarisiert sich auf X mit dem Satz "Je suis Marine" ("Ich bin Marine") - eine Anspielung auf den Satz "Je suis Charlie", der nach dem Terroranschlag auf das Karikaturenblatt "Charlie Hebdo" berühmt wurde. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders erklärt, er sei "schockiert". Der in diesen Dingen fraglos mit Expertise ausgestattete Kreml beklagte kurz nach Urteilsverkündung einen "Bruch mit den demokratischen Normen". Le Pen hatte sich in den vergangenen Jahren von Russland öffentlich abgewandt und die Unterstützung der Ukraine mitgetragen.
Folgen für die Regierung Bayrou
Wie aber ihre Partei auf das Urteil gegen die Vorsitzende und designierte Präsidentschaftskandidatin reagieren wird, ist offen. Frankreichs Ministerpräsident Francois Bayrou regiert im Auftrag von Macron ohne eine eigene Mehrheit für die demokratische Mitte. Der Rassemblement National und seine Verbündeten sind in der Nationalversammlung fast ebenso stark vertreten wie das Bündnis linker Parteien namens Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront). Bayrou muss für Gesetzesvorhaben eines der beiden Lager gewinnen, wobei ihm die zum Linksbündnis gehörende Partei La France Insoumise (LFI) jedwede Unterstützung versagt.
Umso mehr umwarb das Macron-Lager von Bayrou wiederholt Le Pen und ihre Partei, allerdings ebenfalls mit überschaubarem Erfolg. Den Haushalt für das laufende Jahr bekam Bayrou nach langer Hängepartie nur per Dekret durch. Dass das Rassemblement National das daraufhin von La France Insoumise angestrengte Misstrauensvotum gegen Bayrou nicht unterstützte, war schon ein Zugeständnis des RN. Doch auch mit diesen Minimalzugeständnissen des RN könnte nun Schluss sein. Einerseits. Andererseits verliert Le Pen gerade schlagartig ihr Interesse an vorgezogenen Neuwahlen, die das Rassemblement National eigentlich seit Monaten fordert. Bei diesen dürfte Fraktionschefin Le Pen schließlich ebenfalls nicht antreten, würde von der Parlamentsbühne gefegt und an Aufmerksamkeit verlieren.
Und als gäbe es der Verwirrung nicht genug, springt auch die linke LFI der Verurteilten zur Seite. Die Vorwürfe seien zwar schwerwiegend, die Partei lehne aber sofort vollstreckte Wahlausschlüsse aus Prinzip ab, heißt es in einer Erklärung. Jean-Luc Mélenchon, eine Art Übervater der Linksaußenbewegung, ergänzt: "Die Entscheidung über die Absetzung eines gewählten Vertreters sollte dem Volk obliegen."
Frankreich, das seit einem Jahr in einer politischen Dauerkrise feststeckt, ist nach dem Urteil gegen Le Pen nun mit einer noch komplizierteren Lage konfrontiert. Eigentlich ist das eine Gemengelage, die sonst auf das Konto von Le Pen einzahlt: Je größer Chaos und Unzufriedenheit, desto größer die Bereitschaft, doch einmal jemanden außerhalb der etablierten Parteienlandschaft zu einem Regierungsauftrag zu verhelfen. Faktisch aber ist Le Pen eine der wenigen Konstanten in der französischen Politik und ihre Partei auf Kommunalebene längst breit verankert, sie stellt etwa zahlreiche Bürgermeister. Vom Élysée, dem Präsidentenpalast, war Le Pen dennoch immer ausgeschlossen. Dabei bleibt es mindestens noch 2027, wenn ihre Berufung scheitert. Andernfalls könnte Le Pen mit umso mehr Wucht von den politisch Toten auferstehen.
Quelle: ntv.de