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500.000 Menschen in Richtung USA Mächtigster Drogenclan Kolumbiens lenkt Migranten

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In diesem Jahr wagten sich so viele Menschen wie nie in den Dschungel zwischen Kolumbien und Panama. Manche kamen nicht wieder heraus.

In diesem Jahr wagten sich so viele Menschen wie nie in den Dschungel zwischen Kolumbien und Panama. Manche kamen nicht wieder heraus.

(Foto: AP)

Nie wanderten mehr Menschen von Südamerika nach Norden. Möglich macht das die größte kriminelle Organisation Kolumbiens. Deren Taschen füllen Hunderttausende Migranten - die dafür im lebensgefährlichen Dschungel ihr Leben riskieren.

In einem tarnbefleckten Regenmantel dirigieren ein paar Männer die Angekommenen über ein langes Floß in kleinere Boote hinein. Die meisten von ihnen wollen sich hier nicht aufhalten. Es sind Migranten, die den lebensgefährlichen Dschungel zwischen Kolumbien und Panama, den Darién, durchqueren wollen. Dafür ist alles organisiert: Alle haben Taschen dabei, manche Regenstiefel, Zelte, Isomatten. Gegen eine Gebühr haben sie ein Bändchen erhalten, vom schwimmenden Schiffsterminal kurz vor dem kolumbianischen Städtchen Acandí werden sie an eine spezielle Anlegestelle gebracht. Von dort können sie noch ein Stück per Motorradtaxi mit offener Ladefläche zurücklegen. Dann beginnt ein mehrere Tage langer Fußmarsch durch den Urwald.

Bis zu 2000 Migranten überqueren täglich von den Städten Turbo oder Necoclí den Golf nach Acandí oder Capurganá. Dort beginnen die einzigen, neuen Landwege des Kontinents nach Zentral- und Nordamerika, und damit auch in die USA. Vor drei Jahren trauten sich nur rund 10.000 Menschen durch den "Tapón del Darién". In diesem Jahr passierten den inzwischen brüchigen "Pfropfen" mehr als 500.000 Migranten. Es ist ein einsamer Rekord. Die meisten von ihnen sind Venezolaner. Sie sind Teil der größten verzeichneten Flüchtlingsbewegung von Süd- nach Mittelamerika. Für kommendes Jahr erwarten Hilfsorganisationen noch mehr Menschen.

Einen offiziellen Grenzübergang auf dem gefährlichen Landweg nach Panama gibt es auf kolumbianischer Seite nicht. Eine Ausreisekontrolle der kolumbianischen Behörden findet bei der Überfahrt von den beiden Bootsstegen in Necoclí nur sporadisch statt. Bei Migranten ohne gültige Dokumente wird weggeguckt. Früher galt der Urwald als nahezu undurchdringlich, kontrolliert wurde er von Paramilitärs oder der FARC-Guerilla. Erst legten die Paramilitärs vor fast zwanzig Jahren die Waffen nieder, ab 2016 auch die Guerilla. Seither hat hier nahezu unangefochten der Clan del Golfo das Sagen, die gefährlichste und mächtigste kriminelle Gruppe im Land.

Schicksale unter Palmen

Unter den Palmen des Strands von Necoclí schlagen die Migranten ihre Zelte auf und mischen sich unter die Einheimischen und die Touristen, die in Strandbars an ihren Drinks schlürfen. Die katholische Kirche aus Deutschland finanziert derzeit den Bau einer Suppenküche für etwa 80 Migranten. Eine Kinderbetreuung und Elternberatung soll hinzukommen. Anfang Oktober kampieren an einem schmalen Strandstreifen drei Männer. In der Schicksalsgemeinschaft hat jeder eine andere Geschichte zu erzählen.

Am Strand von Necoclí - im Hintergrund einer der Bootsstege.

Am Strand von Necoclí - im Hintergrund einer der Bootsstege.

(Foto: AP)

"Ich war im Mai an der US-Grenze, als der Title 42 aufgehoben wurde", sagt etwa Mayber Castañedo. Wegen der Corona-Pandemie hatten die USA über diese Regelung neue Asylanträge blockiert. Der 34-jährige Venezolaner wollte mit seinem Cousin in die USA. Dafür kämpften sie sich durch den Darién, legten etwa 4700 Kilometer durch ganz Zentralamerika zurück, Mayber Castañedo gab 1200 US-Dollar aus. Doch bei der Überquerung des Rio Grande in den US-Bundesstaat Texas wurden sie aufgegriffen. Den Cousin ließen sie laufen. Er selbst saß monatelang im Gefängnis von Laredo, bis ihn die US-Grenzbehörde schließlich abschob, ihn zurück in Venezuelas Hauptstadt Caracas flog. Nun ist er wieder am Strand von Necoclí und will es mit den anderen beiden erneut versuchen. Dafür wartet Mayber Castañedo auf Geldüberweisungen aus Florida, von seinem Cousin.

Der Clan del Golfo alias Urabeños, die mächtigste kriminelle Gruppe Kolumbiens, verdient sein Geld vor allem mit Drogen. Die Flüchtlingsbewegung nach Norden ist inzwischen ein weiteres lukratives Geschäft: Das kolumbianische Militär schätzt, dass der Clan pro Migrant etwa 125 US-Dollar verdient, unter anderem durch Wegzölle. Hochgerechnet flossen so in diesem Jahr mindestens 62,5 Millionen Dollar in die Taschen der etwa 3500 festen Mitglieder und 14.000 Verbündeten der Urabeños. Deren Zölle bedeuten keinen Schutz: Die Männer berichten von sieben quälenden Tagen durch den Urwald; von den Leichnamen derer, die es nicht geschafft haben; von brutalen Räubern und Menschen mit offenen Wunden, denen niemand hilft.

Fast alle Wege führen zum roten Punkt Necoclí: Nonne vor einer Weltkarte mit Reiserouten an der Wand einer dortigen kirchlichen Einrichtung, die Migranten hilft.

Fast alle Wege führen zum roten Punkt Necoclí: Nonne vor einer Weltkarte mit Reiserouten an der Wand einer dortigen kirchlichen Einrichtung, die Migranten hilft.

(Foto: Roland Peters)

In Necoclí laufen globale Flüchtlingsrouten zusammen. Hilfsorganisationen haben schon über 50 verschiedene Nationalitäten registriert: Sie kommen aus ganz Südamerika, der Karibik, sogar aus Afrika und Asien, um von hier aus den Golf zu überqueren. Er ist das Nadelöhr auf dem Weg nach Norden. Viele der Venezolaner kommen nicht direkt aus ihrer krisengebeutelten Heimat, sondern haben nach ihrer Flucht vor Hunger und politischer Verfolgung eine jahrelange Odyssee über den südamerikanischen Kontinent hinter sich. Die meisten wollen in die Vereinigten Staaten. An der dortigen Südgrenze sind in diesem Jahr so viele Migranten wie nie aufgegriffen worden. Sogar in New York, weit von der Südgrenze entfernt, herrscht wegen der zahlreichen Flüchtlinge Notstand.

In Kolumbien reisen unter den verschiedenen Nationalitäten die Chinesen im Vergleich wie im Luxus, berichten kirchliche Helfer: Sie gäben bis zu 10.000 US-Dollar aus, um sich im Schutze der Nacht per Boot auf dem Seeweg am Dschungel vorbeibringen zu lassen. Reguläre Migranten zahlen für den Weg über den Golf und zu Fuß durch den Urwald etwa 350 bis 500 Dollar. Darunter sind viele Familien sowie Mütter mit ihren Kindern.

Kirche als neutraler Akteur

New Yorks Bürgermeister Eric Adams (Mitte) reiste im Oktober auch nach Necoclí - und warnte vor falschen Versprechungen des Clans.

New Yorks Bürgermeister Eric Adams (Mitte) reiste im Oktober auch nach Necoclí - und warnte vor falschen Versprechungen des Clans.

(Foto: AP)

Über den Clan sprechen vor Ort die Menschen, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand und mit leiser Stimme. "Die Unaussprechlichen" bestimmen das Leben mit, daran zweifelt niemand. Manche der Urabeños wollen nicht mehr, dass von "Migranten" gesprochen wird, sagen Vertreter der Diözese, die sich relativ frei in der Region bewegen können, weil die katholische Kirche keine Partei ergreift. Zuletzt hätte der Clan für die Bevölkerung von Capurganá ein "Gesetz" erlassen: Es sei nun verboten, das Wort "Migranten" zu benutzen, die müssten stattdessen "Reisende des Friedens" genannt werden. Auf Zuwiderhandlung steht eine Strafe von zwei monatlichen Mindestlöhnen.

Die Urabeños sind zwar die größte, aber nur eine bewaffnete Gruppe, die in Kolumbien aktiv ist. Da sind einflussreiche FARC-Einheiten in verschiedenen Landesteilen, etwa 5000 Kämpfer, die weiter unter Waffen stehen. Da ist die andere große linke Guerilla ELN, die ebenfalls Tausende Mitglieder zählt. Da sind aber auch Paramilitärs und kriminelle Banden. Mit allen gleichzeitig will Präsident Gustavo Petro den paz total, den "totalen Frieden" erreichen, also möglichst zeitgleich verhandeln. Das ist wegen anhaltender Gewalt äußerst schwierig, immer wieder werden vereinbarte Waffenstillstände gebrochen. Doch um die Migration besser in den Griff zu bekommen, müsste der Staat am Golf von Urabá das Sagen haben.

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Derjenige, der den "totalen Frieden" ausverhandeln sollte, war im Oktober noch Danilo Rueda. Auf der Terrasse eines Hotels in der Hauptstadt Bogotá berichtet er über den schwierigen Prozess: "Wir haben Krebs und versuchen es mit Chemotherapie", zieht er einen eindrücklichen Vergleich über die Annäherungen. "Der Clan hat den Staat ersetzt", sagt Rueda über dessen Kerngebiet in Kolumbiens Nordwesten und die Migration nach Norden. Zugleich dürfte er aber nicht einfach nur verteufelt werden: "Jede Exklusion bewaffneter Gruppen führt zu mehr Gewalt." Die Macht der kriminellen Gruppen in einem Land zu brechen, in dem seit Jahrzehnten vor allem Waffen über Konflikte entscheiden - es ist eine historische Aufgabe.

Die Recherche fand im Rahmen einer Pressereise und mit Unterstützung von Adveniat statt, dem Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland.

Quelle: ntv.de

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