"Sehr, sehr gute Grundlage" Merkel lehnt neue EU-Verträge ab
29.06.2016, 15:18 Uhr
Kanzlerin Angela Merkel will am Lissaboner Vertrag festhalten.
(Foto: dpa)
Die EU muss derzeit nicht nur das britische Ausscheiden verkraften - sie steht auch vor der Frage, wie es in der Union weitergehen soll. Tiefgreifende Änderungen lehnt Kanzlerin Merkel ab, sie kündigt aber Reformen an.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es abgelehnt, angesichts des britischen Votums für einen Austritt aus der EU eine Reform der europäischen Verträge ins Auge zu fassen. "Diese Verträge sind eine sehr, sehr gute Grundlage", sagte sie nach dem zweitägigen EU-Gipfel in Brüssel mit Blick auf den Lissabon-Vertrag, der 2009 in Kraft trat.
"Wir würden wirkliche das Falsche tun, wenn wir wieder eine Vertragsdiskussion beginnen würden", sagte Merkel weiter. Der Vertrag von Lissabon biete ein großes Maß an Flexibilität, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren. In der Diskussion habe es nur Beiträge ihrer Kollegen gegeben, in denen gefordert worden sei, mit dem bestehenden Instrumentarium "schneller und entschlossener" zu arbeiten. Es sei auch nicht um mehr oder weniger Europa gegangen, sondern darum, "dass die Resultate besser erreicht werden".
"Sehr ernste Situation"
Merkel bezeichnete den ersten Austritt eines EU-Mitgliedstaats als "sehr ernste Situation". Die Entscheidung dafür sei gefallen. "Ich will ganz offen sagen, dass ich keinen Weg sehe, dies wieder umzukehren." Die wirtschaftlichen Folgen auch für Europa seien heute schwer abschätzbar. "Ich glaube, dass man heute nicht genau ermessen kann, wie sich die Dinge auswirken", so Merkel.
Für die Handelsbeziehungen sei das Referendum eine "schwierige Situation". Es komme darauf an, welche Stellung Großbritannien künftig zum europäischen Binnenmarkt einnehme, sagte die Kanzlerin. Mit Blick auf die getrübten Wirtschaftsprognosen betonte sie: "Wir haben ein Interesse daran, dass wir gerade deshalb noch stärker auf Wachstum und Effizienz in unserer Arbeit ausgerichtet sind, um das zu kompensieren, was wir eben auch verlieren." Die 27 verbliebenen EU-Staaten glaubten aber, dass sie "diese Situation bewältigen können".
Fokus auf jungen Menschen
Erstmals tagten 27 EU-Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfel ohne Großbritannien. Sie vereinbarten eine Debatte über Reformen, damit die EU schneller und wirksamer auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts regieren könne, wie Merkel sagte. Vertieft soll darüber bei einem Sondergipfel der verbliebenen 27 EU-Staaten am 16. September in Bratislava diskutiert werden. Allerdings zeichneten sich Differenzen ab zwischen Forderungen für eine vertiefte Zusammenarbeit in der EU und Staaten, die eine Rückverlagerung von Kompetenzen aus Brüssel fordern.
Die EU müsse den Bürgern Wohlstand und Sicherheit geben, zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und die Wettbewerbsfähigkeit stärken, sagte Merkel mit Blick auf die Ziele möglicher Reformen. Ein "ganz besonderer Fokus" müsse dabei auf jungen Menschen liegen. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras forderte "mutige Initiativen" für ein "soziales Europa". Er verwies dabei auf die große Kluft zwischen Nord- und Südeuropa bei der Arbeitslosigkeit.
Die Debatte um Reformen wird aber auch von der Angst vor Wahlsiegen populistischer Parteien geprägt. "Nichts wäre schlimmer als der Status quo, der von den Populisten ausgenutzt wird", sagte der französische Präsident François Hollande, der wie Merkel im kommenden Jahr vor Wahlen steht.
"Kein Binnenmarkt à la carte"
Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte, die EU müsse sich nach dem Nein der Briten ohne komplizierte Änderungen ihrer Verträge reformieren. Es seien weder eine Vertragsänderung noch ein Konvent geplant, sagte er nach den Beratungen mit 27 EU-Chefs. Im zurückliegenden Jahrzehnt hatte ein Konvent die EU-Verfassung erarbeitet, die aber wegen gescheiterter Referenden in den Niederlanden und Frankreich letztlich scheiterte.
Für Großbritannien werde es "keinen Binnenmarkt à la carte" geben, sagte Juncker weiter. "Wer Zugang zum Binnenmarkt haben will, muss die vier Freiheiten akzeptieren", so Juncker. In der EU gelten diese für Dienstleistungen, Waren, Kapital und Personen. Gipfelchef Tusk äußerte sich genauso.
Tusk nahm derweil Juncker gegen Kritik in Schutz. "Jean-Claude Juncker ist die letzte Person, die für den negativen Ausgang des Referendums im Vereinigten Königreich verantwortlich gemacht werden kann", sagte er nach den Beratungen. Junckers Behörde habe bei den Bemühungen, London entgegenzukommen, "mehr als das Maximum" unternommen. Nach dem Referendum hatte es Gerüchte gegeben, Juncker könnte zurücktreten. Die Kommission hatte dies stets zurückgewiesen. Juncker sagte nach Gipfelabschluss: "Ich wurde von vielen Kollegen ermutigt (...), mich nicht entmutigen zu lassen."
Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP