
Ein Friedhof nahe Mariupol: Wer in den Gräbern liegt, lässt sich nach der tödlichen Eroberung der Stadt durch russische Truppen oftmals nicht mehr nachvollziehen.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
100.000 russische Soldaten sollen beim Angriff auf die Ukraine bereits getötet worden sein. Noch einmal genauso viele will Russland anscheinend opfern, um Zeit für eine neue Großoffensive zu schinden. Ein menschenverachtender, aber auch teurer Plan, wenn er sich bewahrheiten sollte.
Der Kreml bestreitet, dass eine weitere Mobilisierungswelle geplant ist, aber die Ukraine ist überzeugt: Russland wird noch im Januar die Grenzen schließen und zum zweiten Mal in nur vier Monaten Zehntausende Männer zum Dienst an der tödlichen Front verpflichten - dieses Mal würden vor allem Männer aus den Großstädten eingezogen, die bisher weitgehend vom Kriegseinsatz verschont geblieben sind, hatte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bereits im Dezember vorhergesagt.
Noch hat Russland seine Grenzen aber nicht geschlossen. Auch Berichte über Armeevertreter, die in Moskau, St. Petersburg, Nowosibirsk oder Jekaterinburg an den Türen klopfen, sind noch nicht bekannt. Nachvollziehbar wäre eine weitere Mobilisierung aus militärischer Sicht allerdings: Allein im Donbass toben seit einem halben Jahr heftige Kämpfe um die kleine Stadt Bachmut mit Tausenden Toten.
Der menschliche Fleischwolf
Auf russischer Seite sollen bei den Kämpfen seit einiger Zeit Kämpfer der Söldnergruppe Wagner die Zügel in der Hand halten und eine menschenverachtende Strategie verfolgen: Welle um Welle sollen sie Soldaten als Kanonenfutter auf die ukrainischen Verteidigungsstellungen werfen - ohne Schutz oder Deckung vor tödlichem Artilleriefeuer, das den Kampf in der Region seit Monaten bestimmt.
Moskau verlässt sich auf die eigene Truppenstärke: Die ukrainischen Stellungen werden überrannt - oder die eigenen Kämpfer sterben, haben die Ukraine aber wenigstens wertvolle Munition gekostet. Eine Strategie, die auch als menschlicher Fleischwolf bezeichnet wird. Ob er mit Häftlingen oder jungen Rekruten gefüttert wird, spielt keine Rolle.
Doch diese Strategie hat einen menschlichen, aber auch einen wirtschaftlichen Preis: Wer an die Front muss, geht nicht mehr arbeiten. Wer vor dem Einsatz flüchtet, auch nicht. Und wer im Kampf stirbt, erst recht nicht - gefallene Soldaten verursachen im Gegenteil sogar noch zusätzliche Kosten.
Ein Haushalt als Fragezeichen
Für jeden Soldaten, der im Kampf verwundet wird oder stirbt, muss Russland eine Entschädigung an die Angehörigen zahlen. Wird ein Soldat verwundet, erhalten die Familien gut 80.000 Euro. Fällt er beim Einsatz an der Front, sind es 164.000 Euro. Bei Zehntausenden Toten bringt das nicht nur die russische Bevölkerungsstruktur ins Wanken, sondern auch den russischen Haushalt.
Der ist für Ökonomen ein großes Fragezeichen. Zum Beispiel wurden die Militärausgaben schon voriges Jahr nachträglich um ein Drittel auf umgerechnet 76 Milliarden Dollar erhöht, um den Krieg gegen die Ukraine bezahlen und auch gewinnen zu können. Dieses Jahr liegt der Haushalt - Stand jetzt - 43 Prozent über der eigentlichen Planung. Insgesamt erwartet der Kreml, dass er von 2022 bis 2025 mindestens 110 Milliarden Dollar mehr für sein Militär ausgeben muss.
Gleichzeitig soll das Defizit in diesem Jahr aber nur bei zwei Prozent liegen. Denn Russland geht davon aus, dass man weiterhin hohe Einnahmen mit dem Öl- und Gasgeschäft erzielt. Das ist aber beim Erdgas unwahrscheinlich, weil - ganz simpel gesagt - Pipelines für Lieferungen nach China fehlen. Und beim Öl ist der Preis für die russische Sorte Urals in die Tiefe gerauscht. Derzeit liegt er bei 58 Dollar. Im Haushalt kalkuliert Russland aber mit einem Preis von 70 Dollar - also weit mehr, als heute gezahlt wird.
Öl und Gas sind aber für 40 Prozent der staatlichen Einnahmen verantwortlich. Das unabhängige russische Exilmedium The Bell berichtet, dass wegen dieser Probleme bereits jetzt ein Loch von weiteren 15 Milliarden Dollar im russischen Haushalt klafft. Entschädigungen für gefallene Soldaten könnten es signifikant vergrößern.
Hunderttausende Soldaten
Das scheint unausweichlich, denn eine neue Großoffensive kann Moskau wahrscheinlich nur mit einer weiteren Mobilmachung angehen, davon sind Militärexperten überzeugt. Die Kosten für Verluste und Entschädigungen dürften also weiter steigen.
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Vergangenes Jahr hatte Russland vor dem Angriff rund 150.000 Soldaten an den Grenzen zur Ukraine zusammengezogen. Bis zum Sommer waren die Verluste so groß, dass der russische Präsident Putin am 21. September eine sogenannte Teilmobilisierung ankündigen musste. In den darauffolgenden Monaten sollen 300.000 Reservisten und Freiwillige für den Einsatz ausgebildet worden und etwa 700.000 Männer geflüchtet sein. Bereits seit Ende November kursieren die Berichte über eine zweite Mobilmachung, bei der gerüchteweise nochmals zwischen 500.000 und 700.000 Russen für den Kriegsdienst eingezogen werden könnten. Wie viele es von ihnen zurückschaffen werden, lässt sich nur erahnen.
Zeitschinden mit Kanonenfutter
Im Dezember hatte die Ukraine davon gesprochen, dass bereits 100.000 Russen im Krieg getötet wurden. Laut Angaben aus den USA wurden 100.000 Russen getötet oder verwundet. Das investigative russische Online-Magazin "Important Stories" berichtet, dass Russland bis zum Frühjahr nochmal 100.000 Reservisten als Kanonenfutter opfern will, um Zeit für die neue Großoffensive zu schinden.
Ein verstörender, aber kein abwegiger Plan: Die russischen Journalisten berufen sich auf Informanten beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB und im russischen Generalstab. Erst in der vergangenen Woche hatte die unabhängige Nachrichtenagentur Agentstvo berichtet, dass Russland selbst schwer verletzte Soldaten ohne Rücksprache mit Ärzten zurück an die Front und wahrscheinlich in den sicheren Tod schickt.
Sollten die Berichte stimmen, hätte Wladimir Putin mindestens 200.000 russische Männer auf dem Gewissen, für die eine Entschädigung von jeweils 164.000 Euro fällig wäre - und die der Kreml sehr wahrscheinlich zahlt: Die Bevölkerung muss ruhig gestellt werden. Dann aber muss Russland die gewaltige Summe von 32,9 Milliarden Euro aufbringen. Das entspricht ungefähr der Hälfte der gesamten russischen Militärausgaben (76 Mrd.) für das vergangene Jahr oder zwei Prozent der russischen Wirtschaftsleistung. Das Leben hat für Putin keinen Preis. Der Tod dagegen schon.
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Quelle: ntv.de