Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Russen rücken trotz hoher Verluste an mehreren Stellen vor"

Präsident Selenskyj besuchte am Sonntag Soldaten an der Front in der Region Saporischschja.

Präsident Selenskyj besuchte am Sonntag Soldaten an der Front in der Region Saporischschja.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Videos in sozialen Netzwerken zeigen, dass Russland unter erheblichen Verlusten von Menschen und Material an mindestens neun Stellen der Front vorrücken konnte, sagt Oberst Markus Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de. Vor allem bei Awdijiwka spitze sich die Situation für die ukrainischen Streitkräfte gefährlich zu. "Die an die Ukraine bis jetzt gelieferten westlichen Waffensysteme sind zwar von hoher Qualität", so Reisner. "Aber in einem Zermürbungs- und Abnutzungskrieg spielt nicht Qualität, sondern vor allem Quantität eine Rolle."

Das Bild, das der Westen sich von Russland macht, vergleicht Reisner mit dem Gedankenexperiment "Schrödingers Katze": "Einerseits hören wir, dass die russischen Streitkräfte völlig dilettantisch agieren, hohe Verluste haben und ihre Rüstungsindustrie massiv unter den Sanktionen leidet, während man andererseits fürchtet, dass es bald zu vor allem hybriden Angriffen Russlands auf Europa kommt."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv)

ntv.de: Es gibt schon länger Spannungen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Armee-Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, die Entlassung des Generals ist offenbar nur eine Frage der Zeit. Ist es eine gute Idee, mitten im Krieg den Befehlshaber der Armee auszuwechseln?

Markus Reisner: Wir erleben hier etwas, dass in der Kriegsgeschichte nicht neu ist. Das Schicksal hoher Militärführer ist unweigerlich mit ihren Erfolgen verknüpft. Im Falle von General Saluschnyj zeigten sich die ersten Risse bei der russischen Belagerung von Bachmut. Präsident Selenskyj bestand darauf, dass nach den Erfolgen von Charkiw und Cherson "kein Meter ukrainischen Bodens mehr hergegeben werden darf". General Saluschnyj schätzte die Lage realistischer ein und wollte eine Abnutzung ukrainischer Eliteverbände in Bachmut verhindern. Heute wissen wir, dass der Kampf um Bachmut den Russen Zeit verschaffte, ihre Verteidigungsstellungen bei Saporischschja auszubauen. Dies führte schließlich zum Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive. Dieses Scheitern schob die ukrainische politische Führung, also Präsident Selenskyj, der militärischen, also General Saluschnyj, in die Schuhe. Als General Saluschnyj in einem aufsehenerregenden Text versuchte, eine Erklärung für das Scheitern zu liefern, und dabei die Mängel in den militärischen Fähigkeiten der Ukraine offenlegte, dürfte das Verhältnis zu Präsident Selenskyj endgültig zerrissen worden sein.

Wer käme als Nachfolger infrage?

Hier stechen natürlich sofort die populären Generäle Kyrylo Budanow, der Chef der Hauptdirektion für Nachrichtendienste des Verteidigungsministeriums, sowie Olexander Syrskyj, der Oberbefehlshaber des ukrainischen Heeres, ins Auge. Beide dürften aber, zumindest ist das die Aussage gut informierter Kreise in Kiew, abgewunken haben. Dies zeigt, wie ernst die Lage für die ukrainischen Streitkräfte ist. Ein potenzieller Nachfolger steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss, so der Wille der politischen Führung und somit von Präsident Selenskyj, nicht nur die Frontlinie 2024 halten beziehungsweise defensiv bleiben, sondern im Jahr 2025 wieder in die Offensive gehen.

Selenskyj hat am Freitag in einer Video-Ansprache mitgeteilt, dass neue Luftabwehrsysteme in der Ukraine angekommen sind, aber er sagte nicht, um welche Systeme es sich handele. Das war doch bisher auch kein Geheimnis - warum jetzt?

Es geht hier darum, den Informationsraum zu dominieren. Die russischen Streitkräfte rücken, trotz hoher Verluste, an mehreren Stellen der Front vor. Hinzu kommen die nahezu täglichen Luftangriffe mit Shahed-Drohnen, gefolgt von massiven Luftangriffen alle zehn bis vierzehn Tage. Die Ukraine muss unbedingt versuchen, die Moral der Streitkräfte, aber auch der Bevölkerung hochzuhalten. Dies gelingt durch die Durchführung spektakulärer Angriffe tief nach Russland, aber auch durch die Zusage oder auch Umsetzung von signifikanten Waffenlieferungen. Dies alles sind bemerkenswerte und wichtige Erfolge, welche sich im Informationsraum gut verwerten lassen, das Ziel muss es aber trotzdem sein, die russischen Angriffe so rasch wie möglich zu stoppen und selbst vorzumarschieren, und dies gelingt im Moment nicht. Das Gegenteil ist der Fall.

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu behauptete am Freitag, die Einheiten der russischen Armee "dringen vor, weiten die Zone unter ihrer Kontrolle aus, verbessern ihre Position an vorderster Linie". Die russische Armee habe die Dörfer Tabajiwka und Krochmalne in der Region Charkiw sowie das Dorf Wessele bei Bachmut im Donbass erobert. Stimmt das?

Man kann dies sehr einfach überprüfen. Man muss sich dazu nur die Mühe machen und die vielen Dutzend Videos analysieren, die auf beiden Seiten jeden Tag in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Nehmen wir ein Beispiel: Die Ukrainer zeigen Videos ihrer Einsätze von First-Person-View-Drohnen an den Stadträndern von Awdijiwka. Ihre Drohnen stürzen sich auf russische Soldaten und töten und verwunden diese. Man sieht also einen Erfolg der Ukrainer. Gleichzeitig zeigen die Videos aber auch, dass die russischen Soldaten sich bereits an den Stadträndern befinden, das heißt, sie müssen bereits so weit vorgerückt sein. Diese Beobachtungen lassen sich entlang der gesamten Front durchführen. Man erkennt hohe russische Verluste an Material und Soldaten, aber eben auch ein Vorrücken an zumindest neun Einbruchstellen: in der Region Charkiw in Synkiwka, nordöstlich von Kupjansk (0,5 km) sowie zwischen Tabajiwka und Krochmalne (5 km); in der Region Donezk in Torske (1 km), zwischen Bachmut und Bohdaniwka (1 km), in Awdijiwka Nord (2 km) und Awdijiwka Süd (2 km); in der Region Saporischschja in Pryyutne (1 km), Robotyne (0,5 km) und Werbowe (0,5 km).

Am Mittwoch hat Putin die Einnahme von Positionen am Rand von Awdijiwka verkündet: Russische Soldaten hätten dort 19 Häuser erobert, sagte er. Ist es nicht ein wenig lächerlich, wenn der große Führer die Eroberung von 19 Häusern meldet?

In Anbetracht des beim Einmarsch im Februar 2022 gesetzten Zieles mutet dies natürlich fast lächerlich an. Nun gelten aber die Regeln eines Abnutzungskrieges. Denken Sie an den Ersten Weltkrieg. Auch damals wurden im Laufe des Jahres 1916 plötzlich zuvor unbekannte französische Dörfer und Städte durch die Frontberichte bekannt. Verdun, Douaumont, wer kannte diese Namen bis dahin? So ist es auch in diesem Krieg. Namenlose Gemeinden und Städte stehen plötzlich im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Niemand von uns kannte zuvor Bachmut, Marjinka oder Awdijiwka. Beide Seiten ringen um diese Orte und nutzen sie in ihrer Informationskriegsführung. Der, der schließlich nachgibt, ermöglicht der anderen Seiten einen Vorstoß. Dann kann alles wiederum sehr schnell gehen. Man denke auch hier als Beispiel an die zwölf Isonzo-Schlachten im Ersten Weltkrieg. Auch hier war erst die zwölfte Schlacht für die Mittelmächte erfolgreich. Und auch deren Erfolg wurde später rückgängig gemacht.

Wie ist die Lage in Awdijiwka?

Die Situation bei Awdijiwka spitzt sich für die ukrainischen Streitkräfte neuerlich gefährlich zu. Bereits letztes Jahr schien es so, als ob die Stadt aufgrund heftiger russischer Umfassungsversuche kurz vor dem Fall stehen würde. Mit der in höchster Eile nach der gescheiterten Sommeroffensive aus dem Südraum nach Awdijiwka verlegten 47. mechanisierten Brigade gelang es, die Nordflanke wieder zu stabilisieren. Dadurch wurde die 53. Mechanisierte Brigade so weit freigespielt, dass sie auch die Südflanke stabilisieren konnte. Nach weiteren intensiven Kämpfen scheint es nun, dass die im Stadtgebiet kämpfende 110. mechanisierten Brigade zurückweichen muss. Mittlerweile kämpfen auch Einheiten der 116. mechanisierten Brigade in der Stadt. Trotzdem gelang es den Russen nun neuerlich, an mehreren Stellen angreifend im Norden und Süden erste Stützpunkte in Besitz zu nehmen und den sich bildenden Kessel einzudrücken. Gelingt es den Ukrainern nicht, die Front neuerlich zu stabilisieren, fällt die Stadt, und somit ein wichtiger taktischer Stützpunkt, über kurz oder lang.

Die USA haben der Ukraine in diesem Jahr noch keine Waffen und Munition geliefert - möglicherweise ein Vorgeschmack auf die Zeit nach der Präsidentschaftswahl im November. Wie lange könnte die Ukraine durchhalten, wenn sie allein auf die Hilfe Europas angewiesen ist?

Russland geht mit einem sehr hohen Selbstvertrauen in das Jahr 2024 und hofft, in den nächsten Monaten weitere entscheidende - vor allem militärische - Erfolge erzielen zu können. Russland ist zunehmend überzeugt, den längeren Atem gegenüber dem "globalen Norden" zu haben. Das Jahr 2024 ist ein wichtiges Wahljahr, nicht nur in den USA. Russland erwartet in diesem Zusammenhang, dass diese Wahlen jene Kräfte stärken werden, welche einer weiteren Unterstützung der Ukraine ablehnend gegenüberstehen. Das Jahr 2024 wird daher im Ukrainekrieg zum Kulminationspunkt, das heißt, die in den nächsten Monaten getroffenen oder eben auch nicht getroffenen Unterstützungsmaßnahmen entscheiden über Sieg oder Niederlage der Ukraine und somit auch des "globalen Nordens" gegenüber Russland. Die an die Ukraine bis jetzt gelieferten westlichen Waffensysteme sind zwar von hoher Qualität. Aber in einem Zermürbungs- und Abnutzungskrieg spielt nicht Qualität, sondern vor allem Quantität eine Rolle. Die Geschichte hat Folgendes oft genug gezeigt: Qualität entscheidet vielleicht die Schlacht, aber die Masse und die verfügbaren Ressourcen entscheiden mit hoher Wahrscheinlichkeit den Krieg.

Bundeskanzler Olaf Scholz reist am Donnerstag zu einem "Arbeitsbesuch" in die USA. Was könnte er mit Präsident Joe Biden zu besprechen haben?

Die USA sind, abgesehen von der baldigen Präsidentenwahl mit ungewissem Ausgang, zunehmend mit anderen Konflikten und Herausforderungen beschäftigt. Die notwendige maritime Allianz im Roten Meer zum Schutz einer der weltweit wichtigsten Handelsrouten, die militärische und finanzielle Unterstützung von Israel, zunehmende Anschläge auf US-Basen im Irak und in Syrien, das Taiwan-Problem oder auch die Frage der Grenzpolitik zu Mexiko drängen nach Lösungen. Dazu kommt, dass sich die Masse der US-Bürger wenig für außenpolitische Fragen interessiert. Damit sind die Europäer gefordert, im Ukrainekrieg eine größere und vor allem richtungsweisendere Rolle zu übernehmen. Eine Umsetzung der viel zitierten "Zeitenwende", um diesen in Deutschland aus vollem Elan heraus geprägten Begriff zu verwenden, lässt sich allerdings nicht erkennen. Ich denke, Bundeskanzler Scholz wird ausloten, wie sich die weitere Unterstützung der USA für die Ukraine darstellen wird, und was dies für Deutschland und Europa bedeutet.

Haben Sie eine Prognose, ob und wann Deutschland der Ukraine Taurus-Marschflugkörper liefern wird?

Das wird erst frühestens dann der Fall sein, wenn es zu einer weiteren signifikanten Verschlechterung für die Ukraine kommt. Es gibt hier ein gutes Beispiel. Denken Sie an die von den Ukrainern seit Langem von den USA geforderte Lieferung von ATACMS-Boden-Boden-Raketen, kurz für Army Tactical Missile System. Zu deren Lieferung und Einsatz kam es bis jetzt erst einmal: nachdem offiziell eingestanden wurde, dass die ukrainische Bodenoffensive gescheitert ist. Im Moment hofft man, das die gelieferten GLSDB-Boden-Boden-Raketen der Ukraine durch gezielte Angriffe auf russische Kommando- und Logistikstrukturen die notwendige Entlastung entlang der Front schaffen. Die "Ground Launched Small Diameter Bombs" können von Kampfflugzeugen aber eben auch von an die Ukraine gelieferten Raketenwerfern vom System MLRS verschossen werden. Dies ist besonders wichtig, denn somit ist eine höhere Einsatzfrequenz möglich. Ganz im Gegenteil zu den Marschflugkörpern SCALP und Storm Shadow. Hier ist die geringe Verfügbarkeit an ukrainischen Su-24M-Kampfflugzeugen die größte Einschränkung. Auch beim Taurus würde sich diese Frage stellen: Von welchen Kampfflugzeugen kann er in welcher Häufigkeit abgefeuert werden? Diese Herausforderung müsste so schnell wie möglich gelöst werden.

Wie sind die Fähigkeiten Russlands für die nächsten Monate einzuschätzen?

Die NATO warnt immer deutlicher vor russischen Angriffen auf ihr Territorium in den kommenden Jahren. Ich bezeichne dies in Anlehnung an den berühmten österreichischen Quantenphysiker Erwin Schrödinger und an sein legendäres Experiment Schrödingers Katze als "Schrödingers Russland".

Schrödingers Russland?

Einerseits hören wir, dass die russischen Streitkräfte völlig dilettantisch agieren, hohe Verluste haben und ihre Rüstungsindustrie massiv unter den Sanktionen leidet, während man andererseits fürchtet, dass es bald zu vor allem hybriden Angriffen Russlands auf Europa kommt. Man sieht hier die Kluft zwischen Informationskriegsführung und dem zunehmenden Eingeständnis einer realistischen zukünftigen Bedrohung Europas durch Russland. Bislang wurde im Westen im Informationsraum versucht, das Gegenüber herunterzumachen und die eigenen Maßnahmen beziehungsweise die eigene Überlegenheit zu überhöhen. Nun versucht man, den Bevölkerungen und vor allem der Politik zu erklären: Es ist ernst und wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Dies zeigt, wie ernst die Lage tatsächlich ist.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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