Region Charkiw unter Druck Russen melden Einnahme von sechs Dörfern
11.05.2024, 11:09 Uhr Artikel anhören
Stoßen die Russen wieder in die Millionenstadt Charkiw vor? Zumindest liefern sie sich im Grenzgebiet wieder viele Gefechte. Laut der US-Denkfabrik ISW planen sie aber wohl bislang nicht, Charkiw zu erobern. Noch haben sie offenbar andere Ziele. Und sind nach eigenen Angaben erfolgreich.
Das russische Verteidigungsministerium hat gemeldet, dass die russischen Streitkräfte die Kontrolle über sechs Dörfer in der Ostukraine übernommen hätten. Die Soldaten hätten die Dörfer Borisiwka, Ohirzewe, Pleteniwka, Pylna und Striletscha in der grenznahen Region Charkiw sowie das Dorf Keramik in der Region Donezk "befreit", erklärte das Ministerium im Onlinedienst Telegram.
Dies deckt sich weitgehend mit inoffiziellen ukrainischen Militärangaben zu der Offensive, die in der Nacht auf Freitag begann. Die russische Armee nahm für sich in Anspruch, eine hohe Zahl ukrainischen Soldaten ausgeschaltet und deren Technik vernichtet zu haben. In Moskau hieß es, 34 ukrainische Soldaten seien gefangen genommen worden. Die Zahl konnte nicht bestätigt werden. Aber Bilder einiger mutmaßlicher Soldaten wurden auf russischen Telegramkanälen veröffentlicht, auch wenn dies nach humanitärem Völkerrecht verboten ist.
Die ukrainischen Behörden brachten nach eigenen Angaben viele Anwohner des Grenzgebietes in Sicherheit. Offiziellen Angaben zufolge halten ihre Verteidigungslinien.
Das ukrainische Militär berichtet seit Freitag von etlichen Gefechten und russischen Vorstößen an zwei breiten Frontabschnitten. Die Offensive war erwartet worden, weil die russische Armee nahe der Grenze Zehntausende Soldaten zusammengezogen hat. Auch Präsident Wladimir Putin hatte schon im März eine Offensive angedroht.
ISW sieht "begrenzte operative Ziele"
Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gehen aber davon aus, dass der Vorstoß noch nicht auf die Stadt Charkiw ziele. Das Institut für Kriegsstudien ISW in den USA sprach von "begrenzten operativen Zielen". Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen; durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Rohrartillerie kommen.
Strategisches Ziel ist demzufolge, die Ukrainer zu zwingen, Soldaten und Material von anderen bedrängten Abschnitten der Front im Osten abzuziehen. Der begrenzte Einsatz lege nicht nahe, "dass russische Kräfte in großem Maßstab eine Offensivoperation durchführen, um Charkiw einzuschließen, einzukreisen oder zu erobern", schrieb das ISW. Gleich zu Beginn des Angriffskriegs im Frühjahr 2022 waren russische Truppen nach Charkiw eingedrungen, konnten aber abgewehrt werden.
Angriff mit zwei Stoßrichtungen
Den Berichten von der Front nach hat der Angriff zwei Stoßrichtungen. An einem Grenzabschnitt etwa 30 Kilometer nördlich von Charkiw besetzten russische Truppen mehrere ukrainische Dörfer. Sie lagen nach übereinstimmenden Angaben in einer Art grauer Zone noch vor der vordersten ukrainischen Verteidigung. Der ukrainische Generalstab nannte das Dorf Lipzy als Stoßrichtung dieses Angriffs. Der zweite Angriff zielte auf die Stadt Wowtschansk etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw. Auch dort wurden mehrere kleine Orte entlang der Grenze besetzt. Im Fall Wowtschansk sehen Experten eher die russische Absicht, Nachschublinien der Ukraine in Richtung Kupjansk zu stören.
Die Ukraine wehrte sich nach russischen Angaben auch, indem sie in der Nacht auf Samstag das russische Grenzgebiet Belgorod mit Raketenartillerie und Drohnen angriff. Auch am Morgen wurde in Belgorod zeitweise Raketenalarm ausgelöst. In Rowenki im russisch besetzten Gebiet Luhansk löste Beschuss einen Brand in einem Treibstoffdepot aus. Die Ukraine kämpft seit mehr als zwei Jahren gegen die großangelegte russische Invasion.
Quelle: ntv.de, ghö/dpa/AFP