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Angriffe auf Kraftwerke Russland hat seine Strategie verändert

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Im März griffen die Russen das Dnipro-Wasserkraftwerk an.

Im März griffen die Russen das Dnipro-Wasserkraftwerk an.

(Foto: dpa)

Die Russen beschießen in der Ukraine nicht mehr Umspannwerke und Transformatoren im ganzen Land, sondern Kraftwerke in Regionen, die schlechter mit Flugabwehrsystemen ausgestattet sind. Das Vorgehen könnte gefährlicher sein als die Bombenoffensive im ersten Kriegswinter.

Der vergangene Winter lief anders als erwartet. Ursprünglich hatten die Menschen in der Ukraine damit gerechnet, dass Russland die ukrainische Energieinfrastruktur erneut mit einer Angriffswelle überzieht.

Im ersten Kriegswinter war es zwischen dem 10. Oktober 2022 und Mitte März 2023 zu einer großen Beschusswelle gekommen. Hauptziel waren Kraftwerke und andere Anlagen der Energieversorgung - bei Temperaturen deutlich unter null Grad. Tatsächlich gab es auch im vergangenen Winter eine größere Welle russischer Angriffe auf das ukrainische Hinterland. Allerdings richtete die sich kaum gegen Energieobjekte. Stattdessen begann Russland erst Ende März wieder mit dem Beschuss der ukrainischen Energieanlagen - mit einem anderen, möglicherweise gefährlicheren Vorgehen als im Winter 2022/2023.

Damals setzte die russische Armee im Schnitt wöchentlich 50 bis 60 Raketen sowie zusätzliche iranische Kampfdrohnen gegen Umspannwerke und deren Transformatoren ein, quer über das Land verteilt. Grund für diese Strategie war, dass die vollständige Vernichtung der Kraftwerke schwierig ist, da sie überwiegend in der Zeit der Sowjetunion errichtet und mit Blick auf einen drohenden Atomkrieg geplant wurden. Allerdings kann die Zerstörung von Transformatoren dafür sorgen, dass der Strom nicht in den Haushalten ankommt - zumal sowohl die Reparatur als auch die Neubeschaffung der Transformatoren eine lange Zeit in Anspruch nehmen.

Dasselbe Objekt wird immer wieder angegriffen

Dieses Mal geht es den Russen offenbar darum, Wärme- und Wasserkraftwerke in bestimmten Regionen direkt anzugreifen, die schlechter mit Flugabwehrsystemen ausgestattet sind als etwa die Hauptstadt Kiew. "Der Feind setzt nun nicht so sehr auf den massiven Einsatz von Raketen bei einem konkreten Angriff, sondern auf die Regelmäßigkeit aufeinanderfolgender Angriffe unter Einhaltung eines Minimalintervals dazwischen", analysiert das ukrainische Fachmedium "Defence Express".

So würden sich die Russen darauf konzentrieren, bereits beschädigte Objekte immer wieder erneut anzugreifen. Außerdem hebt "Defence Express" hervor, dass die russische Luftwaffe offenbar einen Weg gefunden habe, ihre Flotte von alternden Langstreckenbombern des Typs Tu-95MS in technischer Bereitschaft zu halten. Von den strategischen Bombern aus werden Raketen auf die Ukraine abgefeuert, die Flugzeuge sind im Durchschnitt bereits seit 35 bis 40 Jahren im Einsatz.

Auch die britische "Financial Times" berichtete Ende vergangener Woche unter Verweis auf ukrainische Beamte, dass das Ausmaß des Schadens zwar insgesamt so groß sei wie im Winter 2022/2023 - die Schäden aber schwerwiegender seien als ein Jahr zuvor. Es sei zudem offensichtlich, dass Russland bei bestimmten Objekten einen dauerhaften, irreparablen Schaden anrichten wolle.

Allein zwischen dem 22. und 29. März wurden sieben Wärmekraftwerke nachhaltig angegriffen. Auch trafen russische Raketen zwei Wasserkraftwerke, darunter das am Saporischschja-Stausee des Dnipro. Das größte Kraftwerk dieser Art in der Ukraine musste vorübergehend seine Arbeit komplett einstellen.

Lage in Charkiw besonders schlimm

Die Angriffe gehen so gut wie jede Nacht weiter. Besonders kompliziert ist die Lage in der Region Charkiw, wo die Menschen aktuell bis zu 16 Stunden pro Tag ohne Strom aushalten müssen, wenn sie überhaupt Strom haben. Laut "Financial Times" sind einige Kraftwerke, darunter auch solche in der Region Charkiw, nahezu vollständig zerstört. Auch in der Industrieregion Krywyj Rih bleiben bemerkenswerte Stromeinschränkungen bestehen. Die Holding DTEK, die einen großen Anteil an der ukrainischen Stromerzeugung hat, berichtet davon, dass sie rund 80 Prozent ihrer Produktion verloren habe. Angeblich stehen aktuell fünf Wärmekraftwerke von DTEK still.

"Unser Ziel ist es, bis Oktober so viel wie möglich wiederherzustellen", sagte DTEK-Generaldirektor Maksym Timtschenko der Zeitung. "Sofern es keine weiteren Angriffe gibt, werden mindestens 50 Prozent der beschädigten Kraftwerke wieder ans Netz gehen." Doch es ist fraglich, ob der Beschuss bald aufhört. Zwar verfügen die Russen nicht über unendlich viele der teuren ballistischen Raketen, die derzeit besonders häufig eingesetzt werden und von der Ukraine ohne die spärlich verfügbaren Flugabwehrsysteme Patriot und SAMP/T nicht abgeschossen werden können - daher ist es klar, dass die Russen irgendwann eine Pause werden einlegen müssen. Doch der ukrainische Militärgeheimdienst HUR geht davon aus, dass Russland in den nächsten Wochen noch mindestens ein bis zwei größere Angriffe durchführen könnte.

Insgesamt ist es so, dass der Großteil der ukrainischen Stromerzeugung unverändert aus Atomkraftwerken und nicht aus Wärme- und Wasserkraftwerken kommt. Das größte davon, das AKW Saporischschja, bleibt jedoch unter russischer Besatzung, was schon allein die Menge des verfügbaren Stroms einschränkt. Während der neuen russischen Beschusswelle erreichte der ukrainische Stromimport aus der EU zwischenzeitlich einen Rekordwert von 18.700 MWh.

Ukraine will auf dezentrale Stromversorgung setzen

Die Folgen dieser Angriffe könnten schon vor dem nächsten Winter sehr deutlich werden. "Ich glaube, dass es während der Sommersaison, wenn die Temperaturen hoch sind, zu Notabschaltungen kommen kann", betonte Iwan Platschkow, Vorsitzender der Allukrainischen Energieversammlung und Ex-Energieminister der Ukraine. Im Sommer steigt der Stromverbrauch normalerweise, unter anderem durch die verstärkte Nutzung der Klimaanlagen.

Positiv für die Ukraine ist, dass physische Schutz aus Beton bei den Energieanlagen bisher relativ gut hält. "Dieser Schutz hat gezeigt, dass er in allen Fällen, abgesehen von einem direkten Treffer einer Rakete, funktioniert. Es ist unbedingt notwendig, diese Praxis zu erweitern und eine größere Anzahl von Objekten dadurch abzudecken", sagte Oleksandr Chartschenko, Direktor des Forschungszentrums für Energie in Kiew, auf einer Pressekonferenz. Allerdings brauche der Bau von solchem Schutz mindestens sechs bis acht Monate pro Anlage. Außerdem helfen die entsprechenden Vorrichtungen eher bei kleineren Umspannwerken als bei großen Anlagen.

Aus dieser Bedrohungslage will die Ukraine Konsequenzen ziehen. "Wenn wir fünf bis zehn große Kraftwerke haben, sind sie eindeutige Ziele und die Russen können sie treffen", sagte der Vorsitzende des Energieausschusses im Parlament, Andrij Herus, im ukrainischen Rundfunk. "Wenn wir aber Hunderte von kleinen Kraftwerken haben, die sich in der Nähe der Verbraucher befinden, dann wird es praktisch unmöglich oder sehr teuer, Raketen auf all diese Kleinobjekte abzufeuern." Im Rahmen dieser Bemühungen hat die Ukraine Herus zufolge bereits zahlreiche Solarkraftwerke und eine Vielzahl von Gaskraftwerken in den Städten installiert. Auch dies braucht seine Zeit und ist mitten im Krieg ohnehin eine Herausforderung.

Quelle: ntv.de

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