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Konzept der "Totalverteidigung" Schweden rüstet Land und Leute für den Kriegsfall

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Seit 2017 gibt es in Schweden wieder eine Wehrpflicht.

Seit 2017 gibt es in Schweden wieder eine Wehrpflicht.

(Foto: picture alliance / TT NYHETSBYRÅN)

Ähnlich wie in Deutschland gibt es in Schweden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einen Kurswechsel in der Verteidigungspolitik. Das jüngste NATO-Mitglied setzt auf das Konzept der "Totalverteidigung".

In kaum einem europäischen Land wäre die Energieversorgung im Kriegsfall so anfällig wie in Schweden. In dem skandinavischen Land verlaufen 16.000 Kilometer Stromleitungen durch dichte Wälder, weit entfernt von der Zivilisation. Regierung und Militärstrategen fürchten, dass Saboteure sich im Schatten von Tannen und Fichten vergleichsweise unbemerkt Zugang verschaffen, Leitungen beschädigen und auf diesem Weg Stromausfälle provozieren könnten.

So ähnlich wie es Russland derzeit in der Ukraine macht: Kritische Infrastrukturen sind eines der Hauptziele im Krieg. Seit russische Truppen vor mehr als zwei Jahren ins Nachbarland einmarschiert sind, wurde bereits die Hälfte aller ukrainischen Energieanlagen beschädigt. Die Folge sind lange Stromausfälle und strenge Winter ohne funktionierende Heizung.

Für den Notfall will sich Schweden vorbereiten. "Niemand weiß, wie viel Zeit wir haben", sagt Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin im Gespräch mit dem Wirtschaftsportal Bloomberg. Noch vor dem schwedischen NATO-Beitritt hatte Bohlin auf einer Sicherheitskonferenz im vergangenen Sommer deutlich gemacht, dass Schweden zum Konzept der "totalen Verteidigungspolitik" aus der Zeit des Kalten Krieges zurückkehren will. "Wir hatten eines der gründlichsten und durchdachtesten Systeme im Bereich des Zivilschutzes, das im Wesentlichen zwei Ziele verfolgte: erstens die Aufrechterhaltung der Gesellschaft unter sehr schwierigen Bedingungen, letztlich unter einem bewaffneten Angriff, und zweitens die Bündelung aller gesellschaftlichen Anstrengungen zur Unterstützung unserer Streitkräfte."

Mehr Geld für Militär und Zivilschutz

Ähnlich wie in Deutschland gab es in Schweden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einen Kurswechsel in der Verteidigungspolitik. Stockholm gibt seitdem deutlich mehr Geld für die eigene Sicherheit aus. Aber die Ausgaben beschränken sich nicht auf das Militär: Schweden will in den kommenden Jahren auch wichtige Infrastruktur auf Vordermann bringen: Häfen, Straßen, Eisenbahnnetze, Krankenhäuser und Schutzräume sollen ausgebaut werden.

Im Haushalt für 2024 sind 5,5 Milliarden Kronen dafür vorgesehen, das entspricht etwa 470 Millionen Euro - fast dreimal so viel wie 2021. Die schwedische Agentur für zivile Notfälle fordert sogar noch höhere Investitionen. Zehn Milliarden Kronen seien nötig, um für Krisen vorbereitet zu sein.

Das Militär ist ähnlicher Meinung, wie Oberbefehlshaber Micael Bydén gegenüber Bloomberg deutlich macht: "Es spielt keine Rolle, wie stark das Militär wird - wenn wir nicht die nötige Unterstützung durch den Zivilschutz bekommen, werden wir nicht in der Lage sein, das zu tun, was erforderlich ist."

Kraftwerk wird reaktiviert

Wichtigstes Projekt in dem Zusammenhang ist derzeit die Reaktivierung eines stillgelegten Kraftwerks in der südschwedischen Großstadt Malmö. Der ursprüngliche Plan sah vor, das Öresundsverket vollständig abzubauen und an neue Eigentümer zu verkaufen - doch dann kam der Ukraine-Krieg und änderte alles.

Der Netzbetreiber Svenska Kraftnät will die Anlage des deutschen Energieriesen Uniper wieder in Betrieb nehmen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sollte es einen Angriff auf das Stromnetz geben. "Hoffentlich kommen wir nicht in eine Situation, in der wir diese Möglichkeiten nutzen müssen, aber es ist beruhigend zu wissen, dass das Kraftwerk da ist, wenn es gebraucht wird", wird Kraftwerksleiter Mikael Nilsson von Bloomberg zitiert.

2016 schaltete Uniper die Anlage ab, weil das Kraftwerk wegen niedriger Strompreise nicht mehr genug Geld abwarf. Ein kommerzieller Betrieb sei nicht länger möglich, meldete das deutsche Unternehmen damals. In den Folgejahren haben die Eigentümer dem Netzbetreiber mehrfach angeboten, das Öresundsverket in die Stromreserve einzubeziehen. Svenska Kraftnät lehnte das Vorhaben jedoch ab. Daraufhin suchte Uniper nach einem Käufer für das Kraftwerk und wurde 2021 fündig. Das niederländische Energie-Unternehmem Paco Holding unterschrieb schließlich den Kaufvertrag.

Als Russland im vergangenen Jahr in der Ukraine die Oberhand gewann und seine Marineaktivitäten in der Ostsee verstärkte, wurde der Netzbetreiber doch noch auf das stillgelegte Kraftwerk aufmerksam. Svenska Kraftnät wies Uniper plötzlich an, vom Kauf zurückzutreten und das Öresundsverket bis Ende dieses Jahrzehnts in Bereitschaft zu versetzen. Als Entschädigung erhielt Uniper umgerechnet fast eine Milliarde Euro.

Paco Holding fühlt sich verschaukelt. "Wir hatten uns drei Jahre lang vorbereitet und das Kraftwerk bereits an die Türkei weiterverkauft. Jetzt will Uniper uns nicht entschädigen. Zu sagen, dass wir uns betrogen fühlen, ist eine große Untertreibung", kommentierte Firmenchef Chris Verbakel gegenüber der schwedischen Wirtschaftszeitung "Dagens Industri".

Doch anstatt das Kraftwerk in Einzelteile zu zerlegen und in der Türkei aufzubauen, soll die Anlage schon nächstes Jahr wieder an ihrem angestammten Ort in Betrieb genommen werden. Öresundsverket soll künftig als Notreserve dienen, falls das schwedische Stromnetz angegriffen wird.

Schwedens Drei-Säulen-Modell

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Für die schwedische Bevölkerung bedeutet der russische Angriff auf die Ukraine ebenfalls einen Einschnitt. Denn wesentlicher Bestandteil der Aufrüstungsmaßnahmen ist die Wehrpflicht für schwedische Bürgerinnen und Bürger. 2017 wurde diese wieder eingeführt. Seitdem bekommt jede und jeder zum 18. Geburtstag Post von der Musterungsbehörde. In einem aufwendigen Verfahren wird ermittelt, wer zur Musterung eingeladen wird. Am Ende wird nicht mal jeder Zehnte in die Armee eingezogen. In einem bevölkerungsarmen Land wie Schweden reicht das aber bereits, um den Personalbedarf des Militärs zu decken.

Die zweite Säule, auf dem die schwedische Verteidigung aufbaut, ist die sogenannte "Allgemeine Dienstpflicht". "Alle, die in Schweden leben, sind verpflichtet, zur Verteidigung beizutragen. Entweder innerhalb der Streitkräfte, als Teil des Schutzes der Zivilbevölkerung oder zur Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen wie Gesundheitswesen, Transport, Stromversorgung oder Kinderbetreuung", erklärt Camilla Asp von der Behörde für Gesellschaftsschutz und Bereitschaft (MSB) das Prinzip der "Allmän tjänsteplikt" gegenüber der Tagesschau.

Als dritte Säule hat die schwedische Regierung Ende vorigen Jahres auch die Zivildienstpflicht wieder eingeführt. Alle Bürgerinnen und Bürger des Landes sollen einen Dienst für die Gemeinschaft leisten. Damit wird das Konzept der "Totalverteidigung" komplettiert.

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Quelle: ntv.de

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