Russischer Sender in Berlin Von Putins Enkeln auf einer deutschen Schule bis zum CSD in Marzahn
07.07.2024, 13:55 Uhr Artikel anhören
Moderator Anton Trigub schreibt die Texte für seine Moderation.
(Foto: Dimitri Blinski)
Der Sender OstWest hat das Ziel, der russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Die Zuschauer bekommen unabhängige Informationen über Deutschland und die Welt - auf Russisch. Die Zielgruppe lebt in Deutschland, aber auch in der Ukraine und im Baltikum.
Von außen deutet fast nichts darauf hin, dass sich in diesem Eckhaus in Berlin-Charlottenburg die Redaktion eines TV-Senders samt Studio befindet. Drinnen ist an diesem Mittag geschäftiges Treiben auf den Fluren. Jeden Tag um 12.30 Uhr ist bei OstWest Redaktionskonferenz.
Ein schlanker, junger Mann im schwarzen Hemd hat den Blick fest auf seinen Laptop gerichtet. Ruslan Dergalov ist Chefredakteur dieses kleinen Senders. Er könnte auch ein Gamer sein - aber sein Game, das sind Nachrichten. Auf seinem Bildschirm sieht er aktuelle Meldungen, das Netzwerk X, Telegram, Nachrichtenseiten und seine Kontakte. Hauptsächlich von diesen Kontakten zehrt der Sender, der es sich zum Ziel gesetzt hat, russische Propaganda zu entlarven.
Die Sache mit Putins Enkelinnen
Bisweilen landen sie hier auch einen Scoop, also eine spektakuläre Geschichte auf der Basis einer eigenen Recherche. Diese Schlagzeile war so ein Scoop: Putins Enkelkinder gehen auf die Deutsche Schule in Moskau. Wumms - das sitzt! Offiziell gibt es nur noch wenige Drähte nach Russland, doch in Moskau sollen Kinder deutscher Diplomaten zusammen mit den Enkeln des Mannes in einer Klasse lernen, der den Angriff auf die Ukraine befohlen hat - wie absurd.
Doch so abwegig ist das gar nicht, schließlich waren Putins Töchter auch schon auf der Schule. Und 2016 hat der Präsident selbst die Schule besucht. Bei OstWest ist man sich sicher. "Ein paar Stunden nach der Veröffentlichung unseres Beitrags wurde das gesamte Video-Material der Deutschen Schule auf YouTube gelöscht", sagt Chefredakteur Dergalov ntv.de. Denn auch mithilfe dieses Materials konnten sie ihre Informationen verifizieren. "Ich vermute auch, dass die Enkelkinder Putins nicht die einzigen prominenten Kinder sind, die auf diese Schule gehen."
Das Team hat hohe journalistische Standards, auch das macht sie so sicher. "Solche Geschichten haben wir nicht oft, wir streben auch nicht nach Sensation, vielleicht macht uns das zu schlechten Journalisten", erklärt Ruslan Dergalov. "Nur unter bestimmten Bedingungen veröffentlichen wir solche Recherchen: Die Quelle muss in Sicherheit sein, man darf sie nicht enttarnen können und außerdem müssen wir uns absolut sicher sein, dass die Information stimmt. Quellen, die wir nicht persönlich kennen, denen vertrauen wir nicht." Auch ntv.de hat die Deutsche Schule in Moskau nach Putins Enkelinnen gefragt. Diese verweist auf die Deutsche Botschaft in Russland, von der man zum Auswärtigen Amt in Berlin weitergeleitet wird. Allein das zeigt schon, wie heikel diese ganze Angelegenheit offenbar ist. Am Ende berufen sich die deutschen Stellen auf den Datenschutz, eine Auskunft gibt es nicht.
Flucht aus Moskau, ohne Abschied von den Eltern
Die Lage ist angespannt - und auch die Arbeit für OstWest wird zunehmenden schwieriger. "Diese und andere Geschichten können wir nur machen, weil unsere Journalisten gute Kontakte haben, doch langsam sind solche Recherchen gar nicht mehr möglich, denn alle unsere Quellen haben immer mehr Angst, und manchmal vertrauen wir diesen Menschen innerhalb Russlands auch nicht mehr", sagt Ruslan Dergalov. In Russland ist die Arbeit für unabhängige Journalisten mittlerweile brandgefährlich - viele sitzen schon in Haft.
Noch 2022 hatte Dergalov selbst aus Moskau gearbeitet - doch nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde es immer es gefährlicher. "Kurz nach einer Redaktionskonferenz sagte meine Chefredakteurin mir, dass bald eine Welle an Verhaftungen von Journalisten losgehen könnte. Es gebe ein neues Fake-News-Gesetz und ich solle in wenigen Tagen aus Russland raus." Gerade zwölf Stunden lagen zwischen seiner Entscheidung, das Land zu verlassen, und dem tatsächlichen Abflug. Mit einem Auto fuhr er ins Moskauer Zentrum, machte ein Abschiedsbild, doch seine Eltern konnte er nicht mehr sehen.
Wenig später stand Dergalov an der Passkontrolle am Flughafen. Es folgte ein sehr unangenehmes Gespräch mit den russischen Grenzbeamten. "Sie haben mich gefragt, wohin ich fliege, wie lange ich bleibe, ob ich ein Rückflugticket habe. Es waren fünf bis sieben sehr unangenehme Minuten. Du wartest einfach, wann du endlich durch die Grenze kommst." Mit einer guten Legende schaffte er es in die Maschine Richtung Istanbul.
Die Redaktion wurde mit dem Hans-Joachim-Friedrichs-Preis ausgezeichnet
Er sagt, er denke nicht oft an diesen Tag zurück, weil viel wichtigere Ereignisse sein Erlebtes überlagern. Zum Beispiel die brutale Schlacht um die ukrainische Stadt Mariupol. Ruslan Dergalov ist in dieser Zeit in einer Ausnahmesituation. Angekommen in Istanbul, wechselt er zehnmal seine Unterkunft, bekommt Hilfe von Oppositionellen, Sportlern und Freunden und schafft es nach zwei Monaten endlich, nach Deutschland auszureisen. Hier war er vorher schon oft, etwa bei einem Schüleraustausch. Die eigenen Probleme stellt er immer hinten an, seine wichtigste Mission: berichten. Über den Krieg in der Ukraine und über das, was Russland verschleiert oder verdreht. Für das Informieren der russischsprachigen Öffentlichkeit wurde die Redaktion von OstWest 2022 mit dem renommierten Hans-Joachim-Friedrichs-Preis ausgezeichnet.
Heute wird Anton Trigub die Abendnachrichten moderieren - in der Redaktionskonferenz trägt er vor: "Ich würde mit der Bafög-Reform anfangen - 1000 Euro gibt’s für die Studenten, ich hoffe, die freuen sich. Dann müssen wir das vermisste Mädchen Valeria noch mit reinnehmen, die afghanischen Minister und die Ukraine noch dazu." Dass das erste Thema aus Deutschland ist, das ist kein Zufall. Die Redaktion sieht ihren Auftrag auch darin, über das Geschehen in der Bundesrepublik zu informieren.
Chefredakteur Dergalov hakt nach: "Was ist mit der Ukraine, gibt es eine Befragung dazu? Und bei Armenien schaue ich mir an, was du schreibst, und füge später noch etwas dazu." Der Ton ist bestimmt, doch die Atmosphäre ist locker. Alle hier sind zwischen Ende 20 und Mitte 30. Kekse stehen auf dem Tisch, es ist ein bisschen wie in einem Startup. Obwohl - oder gerade weil - die Nachrichten teils so grausam sind, nehmen sie manche Dinge hier mit Humor. Anton Trigub macht sich jetzt ans Schreiben seiner Texte für die Moderation.
"Russland braucht loyale Menschen, die stumpfsinnig und gierig sind"
Der 27-Jährige kam schon im Jahr 2018 zum Studieren nach Berlin. Kurz vor Kriegsbeginn befand Trigub sich gerade in Moskau. Seine Eltern überzeugten ihn, schon am 20. Februar zurück nach Berlin zu fliegen. Vier Tage danach marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Seine Heimat ist mittlerweile Deutschland, Sehnsucht nach Russland hat Anton nicht. "Ich weiß nicht, was ich vermissen soll. Die Unberechenbarkeit der Beamten? Oder sollte ich die Angst vor der Polizei vermissen, wenn sie dir ein Päckchen Marihuana unterschieben und dich für zwölf Jahre ins Gefängnis stecken?"
Seine Eltern haben Russland ebenfalls verlassen und Antons Freunde zuhause ticken auf einmal anders. "Viele von denen, die ich für Freude hielt, haben sich sehr verändert. Nach Kriegsbeginn haben sie sich auf die Seite des Bösen gestellt, und so sind nur wenige Menschen übrig geblieben, die ich liebe und schätze. Um mich mit ihnen zu unterhalten, muss ich nicht nach Russland fahren", sagt Anton abgeklärt. Er habe schon 2017 verstanden, dass Menschen wie er nicht mehr zu Russland passten. "Dort werden loyale Menschen gebraucht, die stumpfsinnig und gierig sind. Freiheitsdenkende Bürger, die es für nicht patriotisch halten, Putin den Hintern zu küssen, solche Leute brauchte Russland damals nicht und heute erst recht nicht. Ich hatte vor Jahren schon verstanden, dass es dort keinen Platz für mich gibt, ich bin ein unerwünschter Teil der Gesellschaft."
Joachim Gauck kommt zum Interview, auch Friedrich Merz
Anton Trigub sieht seine Mission hier in Deutschland. "Ich möchte, dass die Menschen die Wahrheit erfahren. Ich sehe meine Aufgabe im Kampf gegen russische Desinformationen. Ich möchte die Aufmerksamkeit unserer Zuschauer auf die Probleme in Deutschland, aber auch in der Ukraine richten." Dabei wird er in Kommentaren unter den Nachrichtenbeiträgen mal gelobt, aber auch beleidigt. Manche werfen gleich dem ganzen Sender vor, käuflich oder eine Marionette des "Kiewer Regimes" zu sein. So unterschiedlich die Kritik am Sender ist, so unterschiedlich sind auch die Perspektiven im Sender selbst. Denn hier wirken Menschen mit ganz unterschiedlicher Migrationsgeschichte zusammen. "Wir haben eine dreifache Sichtweise auf Themen, denn sowohl Menschen aus der Ukraine als auch Journalisten aus Russland arbeiten hier. Manche sind erst seit Kurzem hier, andere leben schon länger in Deutschland - und sie alle haben unterschiedliche Sichtweisen", sagt Dergalov.
Man sei stolz darauf, dass bei OstWest sowohl deutsche Politiker als auch russische Wissenschaftler zu Wort kommen würden. Dabei hat es die Redaktion geschafft, Altbundespräsident Joachim Gauck sowie CDU-Chef Friedrich Merz zu Interviews vor die Kamera zu holen. An Letzterem habe man sechs Monate gearbeitet. Inhaltlich geht man auf Themen aus der eigenen Community ein - und so geht das Gespräch mit einer Frage zu Russlanddeutschen los.
Zu einem Teil schauen Menschen aus Russland den Sender, ein anderer Teil sind Russischsprachige in Deutschland. Und die bekommen neben einer kritischen Sichtweise auf den Krieg in der Ukraine auch Themen zu sehen, über die das staatliche russische Fernsehen nicht berichten würde. Wie etwa den Christopher Street Day im Berliner Stadtteil Marzahn, in dem viele Deutschrussen leben. "Das Thema ist wichtig für uns, weil die Veranstaltung ein Dialogversuch sein soll, zwischen den AfD-Wählern in Marzahn und den Pro-Europäern, die sich für Menschenrechte einsetzen. Das Ganze hat auch eine andere Dimension: An diesem Wochenende laufen Menschen mit Regenbogen-Flaggen an den fünfstöckigen Plattenbauten vorbei - so könnten auch russische Städte mal aussehen. Der Schlüssel liegt darin, dass Menschen auf die Straße gehen und sich so zeigen können, wie sie sind, ohne dass ihr Leben bedroht ist", hofft Ruslan Dergalov.
Leben und arbeiten, ohne dass das eigene Leben in Gefahr ist. Kritischen Recherchen nachgehen - ohne die Angst, dafür im Gefängnis zu landen, das ist die Lebensgrundlage für die Journalisten von OstWest. Ihr alte Heimat Russland mussten sie aufgeben - für ihre Prinzipien und ihre Überzeugung.
Quelle: ntv.de