Ist Jurij Sodol ein Schlächter? Warum Selenskyj einen hohen General gefeuert hat
29.06.2024, 09:20 Uhr Artikel anhören
Wolodymyr Selenskyj hat sein militärisches Spitzenpersonal erneut umgebaut: Jurij Sodol musste gehen.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Anfang dieser Woche entlässt der ukrainische Präsident einen seiner obersten Generäle. Jurij Sodol wird von seinen Aufgaben entbunden. Die Befehle des Generalleutnants sollen an der Front viele Menschenleben gekostet haben. Das ist allerdings nur ein Teil der Geschichte.
Wolodymyr Selenskyj hat in dieser Woche schon wieder sein militärisches Führungspersonal umgekrempelt. Der ukrainische Präsident entließ Generalleutnant Jurij Sodol und ersetzte ihn durch Andrij Hnatow. Der ist 14 Jahre jünger als Sodol und "genau die Art junger Militärprofis, die die Ukraine laut ihres Präsidenten braucht, um den Krieg zu gewinnen", wie die "Kyiv Post" analysiert.
Gründe für die Entscheidung nannte er nicht. Dem Kommandeur werden jedoch fahrlässige Befehle vorgeworfen, die zu hohen Verlusten geführt haben sollen.
Besonders drastisch hat es der Stabschef der umstrittenen Asow-Brigade, Bohdan Krotewytsch, formuliert. Bei Telegram schrieb er, dass ein bestimmter ukrainischer Militärgeneral "mehr ukrainische Soldaten umgebracht hat als irgendein russischer General". 99 Prozent der Militärs würden ihn "hassen". Krotewytsch teilte mit, dass er in einem Brief an das staatliche Ermittlungsbüro eine konkrete Untersuchung gegen diesen General gefordert habe. Zwar hat Krotewytsch keinen konkreten Namen genannt, aber ukrainischen Medien war schnell klar, dass nur Jurij Sodol gemeint sein kann.
Obwohl dieser vor seiner Karriere als Generalleutnant eher positiv aufgefallen ist. "Sodols Brigade war im ursprünglichen Donbass-Krieg ziemlich erfolgreich an wichtigen Frontabschnitten. Die wichtigste Aufgabe bekam er dann vor einigen Jahren, als er die Marineinfanterie der Ukraine nach US-Beispiel aufbauen sollte", berichtet Denis Trubetskoy, freier Journalist aus der Ukraine und ntv-Autor, im Podcast "Wieder was gelernt". In kurzer Zeit seien "mehrere Marineinfanterie-Brigaden entstanden, die mehr oder weniger jetzt zur Elite der ukrainischen Armee zählen".
Mitverantwortlich in Mariupol
Kritischer fällt die Bewertung aus, wenn man auf die Zeit nach der russischen Invasion im Februar 2022 schaut. Jurij Sodol war mitverantwortlich für die Verteidigung von Mariupol. Dort hatten sich vor allem die Asow-Einheiten bis zuletzt im riesigen Stahlwerk verschanzt, bevor auch sie sich den russischen Angreifern ergeben mussten. Damals gab es Spekulationen, dass in Mariupol zu wenige Verteidigungsstellen gebaut wurden. Dafür wurde vor allem Jurij Sodol verantwortlich gemacht, erzählt Trubetskoy. Danach wurde gemunkelt, dass der Kommandeur versetzt wird - dazu ist es aber nicht gekommen.
Zudem wurde Sodol für den Verlust vieler Menschenleben in der Region Cherson verantwortlich gemacht. "Da gab es diese amphibische Landungsoperation der Ukrainer auf dem von Russland kontrollierten Teil des Bezirks Cherson. Stichwort ist der kleine Ort Krynky. Das ist eine Operation, bei der viele sagen, dass sie in der Form nicht hätte stattfinden müssen", erzählt Trubetskoy im Podcast.
"Ukrainische Verluste in die Höhe getrieben?"
Trotzdem wurde Jurij Sodol dieses Jahr im Februar zum Kommandeur der vereinten Kräfte der ukrainischen Armee ernannt. Gleichzeitig bekam er die Befehlsmacht für einen wichtigen Frontabschnitt, der vom Norden in die "ganz heißen Ecken der Region Donezk" führt, analysiert Trubetskoy. In diesem Abschnitt waren die Russen bei ihren Offensiven am erfolgreichsten. Es gebe "reichlich kritische Fragen" dazu, ob die Ukrainer besonders im Norden ausreichend vorbereitet waren auf die russische Offensive. Auch das wurde Sodol vorgeworfen. So soll er Gegenangriffe ohne Artillerie- und Panzerunterstützung angeordnet und dadurch die ukrainischen Verluste in die Höhe getrieben haben, schrieb die "Kyiv Post".
Außerdem wird er für seine Kommunikation kritisiert. Sodol ist mit seinen Brigaden wohl nicht besonders gut umgegangen. "Ihm wird vorgeworfen, dass er eine Art 'Schlächter' ist, der unvorbereitet Truppen in die Angriffe schickt. Zudem tauchte ein Foto auf, dass ihn zeigt, wie er mit Alkohol in einem Restaurant in Odessa sitzt, während die Russen in der Region Donezk gerade einige Erfolge hatten. Es kam dann raus, dass es sich wohl um die Abschlussfeier seines Sohnes an einer Militärakademie handelte", berichtet Trubetskoy. Für den Generalleutnant war das mindestens eine unglückliche Aktion.
Nicht zutreffend seien dagegen die teils wilden Gerüchte, wonach Sodol russlandfreundlich unterwegs ist. Sodol spreche zwar überwiegend russisch und sei politisch nicht im Selenskyj-Lager zu verorten, dafür stehe er aber auf der Seite des Vorgänger-Präsidenten Petro Poroschenko, der einen klaren national orientierten proukrainischen Kurs fährt.
Kampagne von Selenskyj-Parteifreundin
Deutlich spannender ist, dass es zuletzt auch im ukrainischen Parlament, der Rada, deutliche Vorbehalte gegen Jurij Sodol gab. Angeführt wurde das Lager der Kritiker von Selenskyjs Parteifreundin Marjana Besuhla. Sie ist stellvertretende Vorsitzende im Verteidigungsausschuss und Teil der Fraktion der Regierungspartei Diener des Volkes. Jurij Sodol sei ein "geheimnisvoller Schlächter, der alles verbirgt, was ein Chef braucht", schrieb Besuhla. Die unter seiner Führung stehenden Truppen seien unvorbereitet gewesen.
Schon gegen den ebenfalls geschassten Oberbefehlshaber Walerij Saluschnij hatte Besuhla eine Kampagne geführt, sagt Trubetskoy. Aktuell macht die Abgeordnete zudem Stimmung gegen Saluschnij-Nachfolger Oleksandr Syrskyj. Sodol ist wiederum der erste Top-Kommandeur, der aus der von Syrskyj aufgebauten neuen Armeeführung stammt. "Es ist zumindest ein interessantes Zeichen, dass binnen relativ kurzer Zeit zwei hochrangige Generäle gefeuert wurden, nachdem Marjana Besuhla eine größere Kampagne gegen diese gefahren hat."
Marjana Besuhla sei dafür bekannt, oft an die Front zu reisen und den Militärs vor Ort Hinweise zu geben, was sie tun und lassen sollen. Diese Geschichten seien in Kiewer Journalistenkreisen bekannt, erzählt Denis Trubetskoy.
Kritik oft angebracht, aber im Ton unangemessen
Ende vergangenes Jahr wollten Teile der Regierungspartei die Abgeordnete aus der Fraktion werfen. Auch im Verteidigungsausschuss gab es Pläne, Marjana Besuhla auszuschließen. Beides hat nicht geklappt. Manche glauben, das hängt damit zusammen, dass Selenskyjs Partei dagegen war. Wie nah Besuhla wirklich am Präsidenten dran ist, weiß aber niemand so genau.
"Die Frage ist, ob sie Anweisungen von der Präsidialadministration bekommt oder ob sie einfach ein sehr gutes Gespür dafür hat, was im Präsidentenbüro gewollt ist, und dass sie dann gelegentlich damit ins Ziel trifft. Die zweite Variante halte ich ehrlicherweise für wahrscheinlicher", analysiert Trubetskoy im ntv-Podcast. "Man muss aber schon feststellen, dass ihre Kritik an Militärs meist in der Form unangebracht ist, aber dass sie in der Sache gar nicht immer daneben liegt."
Grundsätzlich ist Trubetskoy aber der Meinung, dass oft zu viel über "General A und General B" gesprochen und geschrieben werde. Mitten im Krieg seien solche öffentlichen Diskussionen ein Problem. Emotionale Debatten über Kriegsführung würden sicherlich nicht beim Zusammenhalt helfen. Man könne Generäle nicht bewerten wie Fußballtrainer.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de