Unionsstreit bei Anne Will "Sie klingen, als wären Sie froh"
02.07.2018, 01:28 Uhr
Talkshow ohne Markus Söder, dafür mit Olaf Scholz, Daniel Günther, Giovanni di Lorenzo, Katrin Göring-Eckardt und Robin Alexander.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
Während Anne Will mit ihren Gästen über den Krach der Schwesterparteien spricht, sickert durch, dass Horst Seehofer seinen Rücktritt als Innenminister und CSU-Chef angeboten hat. Das Publikum kichert.
Anne Will hat es von Anfang an gewusst: "Wir senden spät, aber wir senden offensichtlich noch nicht spät genug", sagt sie zum Auftakt ihrer Sendung am Sonntagabend, für die sie ihre Sommerpause unterbrochen hat. Eigentlich sollte auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mitdiskutieren. Doch die CSU-Spitze ist noch nicht so weit.
Seit 15 Uhr beraten in München Vorstand und Bundestagsabgeordnete der CSU. Als Anne Will sieben Stunden später mit ihrer Sendung beginnt, hat die Sitzung noch immer kein Ende gefunden. in der Runde fehlt daher eine CSU-Stimme, um den skurrilen Streit der Schwesterparteien einzuordnen.
Für die CDU erklärt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther: Was Bundeskanzlerin Angela Merkel vor zwei Tagen beim EU-Gipfel erreicht habe, sein "mindestens als gleichwertig" mit den von CSU-Chef Horst Seehofer geforderten Zurückweisungen zu betrachten. Auf das Wort kommt es an - Seehofer hatte angekündigt, er werde Zurückweisungen von Asylbewerbern anordnen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, wenn in Brüssel keine Maßnahmen beschlossen würden, die "wirkungsgleich" seien. Merkel lehnt dies als einseitige Maßnahme ab, unter der die südlichen EU-Staaten leiden würden. Sie fordert ein europäisches Vorgehen und bilaterale Einigungen mit EU-Staaten, damit die Überstellung von Asylbewerbern in die eigentlich zuständigen Staaten besser klappt. Bislang scheitert dies häufig an der Bürokratie. Dieser eigentlich recht kleinteilige Streit hat deshalb das Zeug zur Regierungs- und Staatskrise, weil beide Seiten sich weitestgehend kompromisslos gezeigt haben und damit am Ende die Entlassung des Innenministers und der Bruch von Unionsfraktion und Koalition stehen könnte.
"Dann wackelt die Republik"
Aus der CSU-Sitzung in München war zu diesem Zeitpunkt schon zu hören gewesen, dass Seehofer das Ergebnis des EU-Gipfels für zu schlecht hält. Günther dagegen sagt, aus seiner Sicht sei es "sogar deutlich mehr" als wirkungsgleich. Die Zurückweisungen würden "weniger bringen".
Am Verhalten der bayerischen Schwester übt der Ministerpräsident scharfe Kritik. "Wenn die CSU immer nach Recht und Ordnung ruft, dann wäre es auch schon mal viel geholfen, wenn sie für Recht und Ordnung im Regierungshandeln sorgen würde." Es sei "extrem befremdlich", dass Deutschland über einen Plan streite, den kaum einer kenne. Günther meint Seehofers "Masterplan", den bisher nur der Innenminister selbst, Merkel und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kennen - und mittlerweile auch der CSU-Vorstand und die Bundestagsabgeordneten der Partei, denn bei der Sitzung in München wurde das Papier verteilt. Dieses Vorgehen sei eine Form der Zusammenarbeit, "die schlicht und ergreifend nicht geht". Auf die Frage, was passiere, wenn Seehofer die Zurückweisungen gegen den Willen der Kanzlerin anordne, sagt Günther, der Innenminister könne so nicht handeln, "wenn er weiter im Amt bleiben will". Die Rücktrittsgerüchte und -berichte haben die Runde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht.
Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz von der SPD nennt den Streit zwischen CDU und CSU "sehr selbstvergessen". Die Frage, ob er dafür sei, dass Seehofer entlassen werde, wenn er den nationalen Alleingang anordne, beantwortet er auf mehrfaches Nachfragen so ausweichend, dass das Publikum ein bisschen lacht. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt findet den Konflikt der Unionsparteien "sehr befremdlich und sehr gefährlich". Er löse keine Probleme, sondern schaffe täglich neue. "Manchmal habe ich das Gefühl, da haben ein paar Herren zu viel von der Dosis Trump genommen."
"Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo versteht nicht, warum die CSU nicht ihre Erfolge betont. Er hat allerdings durchaus Verständnis für die Haltung, dass der Staat Stärke zeigen soll. Der Mann, der als Osama bin Ladens Leibwächter bekannt wurde, sei erst nach zwölf Jahren in Abschiebehaft genommen worden, nachdem Seehofer den Fall zur Chefsache gemacht habe. Dass dies so lange gedauert habe, vermittle den Bürger den Eindruck einer "gewissen Wurschtigkeit", einer "gewissen Gleichgültigkeit", was wiederum zu dem Gefühl führe, "dass die politische Mitte schwach ist". Zugleich weist er darauf hin, dass es bei den Zurückweisungen faktisch nur um ein paar hundert Fälle im Monat gehe. Auch dafür habe die Öffentlichkeit kein Verständnis. "Ich sehe im Moment nur Verlierer."
Während die Runde darüber spricht, wer verantwortlich für den Streit ist, erfährt Anne Will über den Knopf in ihrem Ohr, dass Seehofer bereit sei, als Parteichef und Innenminister zurückzutreten. Sie teilt das der Runde und dem Publikum im Studio mit, das daraufhin erneut kichert. Staatskrise? Auch wenn natürlich jeder in der Runde weiß, dass ein Bruch der Koalition und der Unionsfraktion alles andere als gut für die politische Stabilität in Deutschland und Europa wäre, scheint das Thema außerhalb der CSU-Zentralen niemanden so recht in Panik zu versetzen. Jedenfalls wird völlig ruhig weiter diskutiert. Nur "Welt"-Journalist Robin Alexander sagt, wenn Seehofer zurücktrete, die CSU die Regierung verlasse und die Union zerbreche, "dann wackelt die Republik". Wie di Lorenzo sieht er die Schuld für die Eskalation nicht allein bei der CSU, sondern auch bei Merkel.
Als Günther dies zuückweist und erneut das Verhalten der CSU kritisiert, scheint Alexander sich zu wundern. "Sie klingen, als wären Sie froh, dass Sie ihn los sind." Die CDU müsse doch jetzt versuchen, Seehofer "zurückzuholen", statt ihn zu beschimpfen. Sein Fazit: "Da passt nicht mehr zusammen, was früher zusammengepasst hat."
In München gibt es noch immer keine Pressekonferenz, keine Klarheit und damit auch keinen Söder für Anne Will. Immerhin lässt sich Olaf Scholz zu der Bemerkung hinreißen, dass er gut mit Seehofer zusammengearbeitet habe. "Ich glaube, es wäre besser, die Regierung würde so, wie sie angetreten ist, weitermachen und ihr Programm umsetzen."
Am Ende der Sendung sagt Will, dies sei "ein denkwürdiger Abend" gewesen. Dabei ist eigentlich noch gar nichts passiert.
Quelle: ntv.de