Reisners Blick auf die Front "Sie können noch so sehr Elitekämpfer sein, Sie werden einfach zerschmettert"
07.10.2024, 19:01 Uhr Artikel anhören
Soldaten einer Evakuierungseinheit sind in der Nähe von Orichiv unterwegs. Der kleine und vergleichsweise leise Wagen bietet besseren Schutz vor russischen Drohnen und erhöht die Überlebenschance der Verwundeten, die transportiert werden.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Nach erbittertem Kampf muss die ukrainische Armee die Bergbaustadt Wuhledar aufgeben, die von Russen eingekesselt war. Was das für die Lage der Ukraine im Krieg bedeutet, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, vergangene Woche haben die ukrainischen Truppen Wuhledar noch verteidigt, inzwischen mussten sie die Bergbaustadt aufgeben. Wie kam es dazu?
Markus Reisner: Die 72. mechanisierte Brigade hat sich zurückgezogen. Den Kommentaren in ukrainischen Netzwerken kann man entnehmen, dass sie schwere Verluste erlitten hat. Aus meiner Sicht ist Wuhledar ein klassisches Beispiel für die Folgen des Abnutzungskrieges. Vor eineinhalb Jahren war die Stadt noch sehr erfolgreich bei der Abwehr russischer Angriffe. Aber nach einem zermürbenden Kampf gegen Artillerie, gegen Marschflugkörper, also gegen Raketenartillerie und jetzt auch gegen Bomben ist es so weit gewesen. Der Stützpunkt, diese wichtige Festung, war einfach sturmreif geschossen.
Hat die Brigade dort also anderthalb Jahre lang nonstop gegen die Einnahme der Stadt gekämpft?
Wuhledar hatte eine ähnlich hohe Symbolkraft in seinem Abwehrkampf wie Bachmut. Wenn Sie sich erinnern, war das Narrativ der Ukraine: Unsere Armee erleidet zwar hohe Verluste, aber im Vergleich dazu sind die Verluste auf Seiten der Russen wesentlich höher. Bachmut war ein Bollwerk, an dem die Russen sich abgerieben haben, bis es nicht mehr zu halten war.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Das gleiche gilt für Wuhledar?
Die Stadt war das Bollwerk im Süden. Wenn wir uns die Front dort anschauen, erstreckt sie sich in einem Halbbogen von Saporischschja bis nach Kupjansk. Aus diesem Verlauf ergibt sich ein Angelpunkt, und der liegt genau bei Wuhledar. Von dort aus konnten die Ukrainer die russischen Versorgungslinien bedrohen, nördlich von Mariupol. Diese Versorgungslinien - Straßenverbindungen und Eisenbahnlinien - sind für die russischen Truppen wichtig. Sie wurden zum Teil erst gebaut, nachdem die Kertsch-Brücke so oft angegriffen wurde. Wuhledar war wie ein Stachel in diese russischen Stellungen hinein, von dem aus man die Versorgungsrouten bedrohen konnte.
Und diesen wirksamen Stachel hätten die Ukrainer schon im Januar 2023 beinahe eingebüßt?
Ja, in der ersten russischen Winteroffensive stand Wuhledar massiv unter Druck, und zwar aus einem besonderen Grund: Die Russen haben mit aller Vehemenz versucht, die Ukraine zu zwingen, ihre Reserven auszuspielen. Damit diese Reserven nicht mehr für die geplante ukrainische Sommeroffensive ab Anfang Juni zur Verfügung standen. Die Ukrainer haben diesen Köder aber nicht geschluckt damals. Sie haben die Russen gesehen, die Wuhledar massiv bedrängt und sich bei diesen Angriffen stark verbraucht haben. Die Ukrainer haben aber nicht reagiert. Sondern ihre Reserven zurückgehalten, weil sie mit ihnen im Sommer in die Offensive gehen wollten.
Dann hat anstelle der frischen, kampfkräftigen Reserven damals die "B-Mannschaft" Wuhledar gehalten?
B-Mannschaft kann man nicht sagen. Die 72. mechanisierte Brigade war schon auch eine Elite-Einheit, die dort über Jahre eingesetzt war. Die kannten dort praktisch jedes Mauseloch. Hätte man die Reserven dort eingesetzt, wären sie die zweite Garnitur gewesen. Aber die 72. mechanisierte Brigade musste es vor anderthalb Jahren allein schaffen, hat es allein geschafft. Sie hat allem Druck der Russen standgehalten, immerhin haben sich dort zwei Brigaden der russischen Streitkräfte aufgerieben und schwerste Verluste erlitten. Die Bilder gingen damals um die Welt, es hieß: Nach über einem Jahr Krieg haben die Russen immer noch nichts gelernt. Nach dieser Niederlage haben die aber nicht aufgehört, sondern die Stadt weiter angegriffen. Mit Artillerie, Raketen-Artillerie, mit Gleitbomben. Woche für Woche, Monat für Monat. Und jetzt sind wir eineinhalb Jahre später. Eineinhalb Jahre mit ständigen Angriffen.
Bis die Ukrainer gezwungen waren, die Stadt aufzugeben?
Kiews Truppen konnten sich nur noch absetzen, sich zurückziehen, um nicht völlig vernichtet zu werden. Die Russen sind nachgerückt und haben dann mit einer Zangenbewegung versucht, die Stadt einzukesseln. Die Brigade hat das lange ausgehalten. Es kursierten im Netz aber auch verzweifelte Videos, wo Soldaten gefragt haben: Warum sind wir noch hier? Was verteidigen wir?
Die Leistung von damals konnte die 72. Brigade nicht noch einmal erbringen.
Die Einheiten sind jetzt so abgenutzt gewesen, dass der Erfolg von 2023 nicht mehr wiederholbar war. Die Dramatik des Abnutzungskrieges nenne ich das, und viele verstehen das noch immer nicht. Es sind Einheiten im Einsatz in diesem Krieg, die kämpfen seit 955 Tagen. Und die werden sukzessive abgenutzt, die können irgendwann nicht mehr. Heute haben wir Tag 956 dieses Invasionskrieges. Wenn sich nichts verbessert, wenn also die Ukraine weiter nichts bekommt, um gegen Gleitbomben vorzugehen, wenn sie nichts hat, um mit Gegen-Artilleriefeuer die feindliche Artillerie zu treffen, dann können Sie noch so ein Elitekämpfer sein. Sie werden einfach zerschmettert. Über die Zeitachse. Genau dieser Rechnung folgt ein Abnutzungskrieg.
Nochmal zu den Videos, die Sie eben erwähnten. Das klingt fast so, als sei es aber auch eine Erleichterung für die ukrainischen Truppen gewesen, schlussendlich zu akzeptieren, dass Wuhledar nicht zu halten war.
Eben nicht, weil auf operativer und taktischer Ebene dieser Raum eine Bedeutung hatte, als Stachel, der in die russischen Stellungen hineinreichte. Nun hat man diesen starken Stützpunkt aufgegeben für einen Verzögerungskampf in die Tiefe.
Wie weit haben sich die Ukrainer zurückgezogen?
Es sind nur einige Kilometer. Das Herausfordernde hier ist zum einen das Gelände. Es ist sehr flach. Dadurch ist automatisch derjenige in der besseren Position, der die wenigen Anhöhen hält, vor allem die Minen und Bergbaustädte. Zum anderen kommt nun das zum Tragen, was wir immer wieder sehen: Die Stellungen weiter hinten, in der nächsten Verteidigungslinie haben nicht annähernd die Qualität wie die vorderen Stellungen, die man bis jetzt besetzt hat. Sie dürfen nicht vergessen, dass Wuhledar eine Stellung in der ersten Linie war. Das heißt, sie wurde über acht Jahre lang ausgebaut.
Auf operativer Ebene, für die Situation an der Front, kam Wuhledar also große Bedeutung zu?
Auf der operativen Ebene ja. Nicht aber auf strategischer Ebene, also bei der Frage, ob etwas zum Beispiel absolut notwendig ist, um die Fähigkeiten für einen langen Krieg zu erhalten. Kaum ein Geschehen an der Front hat wirklich unmittelbare strategische Bedeutung. Strategisch bedeutsam sind hingegen Angriffe auf die kritische Infrastruktur. Ohne Strom etwa würde es für die Ukraine enorm schwierig, den Krieg überhaupt weiterzuführen.
Wenn wir den Blick von Wuhledar aus etwas weiten: Wie bedrohlich sieht es für andere Frontabschnitte aus?
Es kündigt sich bereits ein zweiter Kessel an, westlich von Newelske. Nach der Einnahme von Ukrainsk sind die Russen weiter vorgestoßen, auch im Süden der Stadt. Dort ist ein kleiner See, und die Russen kämpfen sich gerade entlang einer Eisenbahnlinie vor in Richtung dieses Sees, Wowtscha. Nur mehr zwei, drei Kilometer trennen die russische Armee von diesem See, und wenn es ihr gelingt, die Eisenbahnlinie bis zum See unter ihre Kontrolle zu bringen, dann ist dort eine größere Streitmacht der Ukraine eingeschlossen. Falls es Kiews Armee nicht schafft, ihre Soldaten rechtzeitig abzuziehen, dann wird das fast eine noch größere Herausforderung, als es vorher bei Wuhledar schon der Fall war. An den Frontabschnitten bei Charkiw und Kursk herrscht nach wie vor eine Art Pattsituation.
Es kursieren Meldungen, die einen Angriff auf die Stadt Saporischschja vorhersagen. Das Atomkraftwerk dort ist ja schon lange russisch besetzt, die Stadt noch nicht. Sehen Sie diese Gefahr?
Über die letzten Monate haben die russischen Truppen nach und nach den Raum wieder in Besitz genommen, den die Ukraine in der Sommeroffensive zurückerobert hatte. Ukrainische Netzwerke sehen jetzt mögliche Vorbereitungen für einen Angriff auf die Stadt Saporischschja, das stimmt. Noch ist es aber nicht so weit. Ich halte das für vergleichbar mit der Situation im Frühjahr nordwestlich von Kiew. Da berichteten ukrainische Quellen mehrfach, im Raum Sumy werde ein Angriff vorbereitet, man müsse daher Kräfte dorthin verlagern. Der Angriff der Russen auf Sumy kam nicht. Aber dafür der Angriff der Ukrainer auf Kursk.
Die Ukrainer haben also diese Meldungen gestreut, um dort Truppen die Region verlagern zu können, ohne dass es auffällt und man sich fragt: Was wollen die dort?
Genau so hat man das in der Rückschau bewertet. Die Ukrainer haben die Verlegung von Truppen in die Region mit vorbereitenden Maßnahmen der Russen für eine Offensive begründet. Tatsächlich aber haben sie die Truppen für den Angriff auf russisches Territorium, auf Kursk, dort bereitgestellt. Das muss nicht zwingend heißen, dass wir in Saporischschja eine ähnliche Situation haben. Aber es empfiehlt sich, solche Meldungen im Kontext zu betrachten.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de