Was für eine Impfpflicht spricht "Uns gehen einfach die Alternativen aus"
05.12.2021, 10:05 Uhr
"In der Politik scheint es ein großes Gut zu sein, wenn man pauschale und allgemeingültige Statements abgibt und dann daran festhält, komme was wolle", sagt Robert Böhm. "In der Wissenschaft und insbesondere während einer Pandemie finde ich so was nicht nur suboptimal, sondern sogar gefährlich."
(Foto: picture alliance/dpa)
Eine Impfpflicht ist ein starker Eingriff in die individuelle Freiheit, sagt der Sozialpsychologe Robert Böhm. "Der Ärger, der durch den Freiheitsentzug entsteht, kann zu Protesten führen", außerdem könne es zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Politik kommen. Böhm plädiert dennoch dafür, die Einführung einer Impfpflicht ernsthaft zu diskutieren, denn: "Es gehen einfach langsam die möglichen Alternativen zur Erhöhung der Impfquote aus."
ntv.de: Vor gut einem Jahr haben Sie eine Impfpflicht noch skeptisch gesehen, unter anderem deshalb, weil dies "Reaktanz auslösen und einen negativen Effekt auf andere Impfungen haben" könne. Wann haben Sie Ihre Meinung geändert?

Robert Böhm lehrt Sozialpsychologie im Kontext von Arbeit, Gesellschaft und Wirtschaft an der Universität Wien und Angewandte Sozialpsychologie und Verhaltenswissenschaft an der Universität Kopenhagen.
(Foto: privat)
Robert Böhm: Meine Meinung über die Impfpflicht hat sich nicht geändert. Eine Impfpflicht ist die "Ultima Ratio" zur Erhöhung der Impfquote. Sie sollte nur in Betracht gezogen werden, wenn andere Maßnahmen zur Erhöhung der Impfbereitschaft bereits ergriffen wurden, aber nicht den gewünschten Effekt erzielt haben. Dazu zählen das Vorhandensein und der einfache Zugang zu einem kostenlosen, wirksamen und sicheren Impfstoff. Ebenso sollten diese Aspekte transparent an die Bevölkerung kommuniziert worden sein.
Aber etwas hat sich geändert.
Auch wenn ich eine Impfpflicht immer noch kritisch sehe, hat sich meine Einschätzung der pandemischen Lage und der möglichen Alternativen zu einer Impfpflicht verändert. Die Corona-Pandemie stellt weiterhin eine große gesellschaftliche Belastung dar. Dennoch sind einige Menschen nicht bereit, sich impfen zu lassen, obwohl die Vorteile einer solchen Impfung für die eigene Gesundheit und für die Gesellschaft deutlich überwiegen. Andere Maßnahmen zur Erhöhung der Impfbereitschaft haben keinen Erfolg gezeigt. Deshalb müssen wir nun die Einführung einer Impfpflicht ernsthaft diskutieren, auch wenn die Entscheidung eine politische und keine wissenschaftliche ist.
Bevor wir zu den Gründen kommen, die für eine Impfpflicht sprechen - was spricht dagegen?
Eine Impfpflicht ist ein starker Eingriff in die individuelle Freiheit. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen hierauf sehr sensibel reagieren. Wir sprechen hierbei von psychologischer Reaktanz. Der Ärger, der durch den Freiheitsentzug entsteht, kann zu Protesten führen und hat möglicherweise negative Effekte auf andere Impfentscheidungen, die nicht verpflichtend sind, zum Beispiel die Grippeimpfung. Außerdem kann dies zu einem Vertrauensverlust gegenüber politischen Entscheidungsträger:innen führen.
Weiterhin könnte eine zielgruppenspezifische Impfpflicht, die zum Beispiel nur für bestimmte Altersgruppen gilt, die Impfbereitschaft bei anderen Personen, die nicht zu dieser Zielgruppe gehörten, sogar verringern. Wenn es also keine Impfpflicht für mich aber für andere Personen gibt, könnte ich zu der Einschätzung kommen, dass die Impfung für mich vielleicht überhaupt nicht nötig ist.
Warum gewichten Sie die Nachteile einer Impfpflicht weniger stark? Ist der Hauptgrund, dass Umfragen zeigen, dass es mittlerweile eine breite Akzeptanz dafür gibt?
Es gehen einfach langsam die möglichen Alternativen zur Erhöhung der Impfquote aus, bei einer gleichzeitig gefährlichen pandemischen Situation. Das führt dann zwangsläufig zu einer veränderten Einschätzung der Impfpflicht bei mir, aber auch bei vielen anderen Wissenschaftler:innen.
In der Tat zeigen verschiedene Studien und Umfragen, dass die Befürwortung der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in der Bevölkerung in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen hat. Irgendwie ist das auch ein Spiegelbild der aktuellen Situation: Die Geimpften sind es leid, erhebliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen, nur weil einige Menschen nicht bereit sind, sich impfen zu lassen. Dies allein ist kein hinreichendes Kriterium für die Einführung einer Impfpflicht, aber es hilft natürlich, wenn eine solche Maßnahme auch von der Breite der Bevölkerung getragen wird.
Ist eigentlich klar, wer die Ungeimpften sind oder sind wir da auf Spekulationen angewiesen?
Es gibt zahlreiche Umfragen, die untersuchen, in welchen Aspekten sich geimpfte von ungeimpften Personen unterscheiden. Ich möchte jetzt nicht darauf eingehen, in welchen Bevölkerungsgruppen sich die Impfquoten unterscheiden, möchte aber betonen, dass ungeimpfte Personen vor allen ein geringeres Vertrauen in die Sicherheit und Wirksamkeit der Impfungen haben als geimpfte Personen. Egal ob mit oder ohne Impfpflicht, es ist deshalb weiterhin enorm wichtig, dass die Vorteile der Corona-Impfung klar und deutlich an alle Bevölkerungsgruppen kommuniziert werden.
Müsste nicht vor Einführung einer Impfpflicht versucht worden sein, die impfskeptischen Milieus mit zielgruppengenauer Ansprache zu erreichen? Ist das passiert?
Ich weiß nicht genau, was diesbezüglich in Deutschland passiert ist. Aber ich weiß, dass viele Wissenschaftlicher:innen schon vor Monaten darauf hingewiesen haben, dass eine solche zielgruppenspezifische Kommunikation sehr wichtig sein wird.
Die Bundesregierung hat mehrfach ausdrücklich erklärt, es werde keine Impfpflicht geben, auf den Internetseiten der Bundesregierung heißt es nach wie vor: "Die Behauptung, es werde eine Impfpflicht geben, ist falsch." Jens Spahn hat am 18. November 2020 im Bundestag sogar gesagt: "Ich gebe Ihnen mein Wort. Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben." Spahn selbst ist noch immer kein Befürworter einer Impfpflicht, aber wäre es nicht dennoch ein Wortbruch, wenn nun eine Impfpflicht kommt?
In der Politik scheint es ein großes Gut zu sein, wenn man pauschale und allgemeingültige Statements abgibt und dann daran festhält, komme was wolle. In der Wissenschaft und insbesondere während einer Pandemie finde ich so was nicht nur suboptimal, sondern sogar gefährlich. Wir müssen die Maßnahmen entsprechend des sich verändernden Wissens und der pandemischen Lage anpassen, so wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben.
Wie müsste eine Impfpflicht durchgesetzt werden, damit sie die Impfquote auch tatsächlich steigert?
Eine Impfpflicht muss natürlich so umgesetzt sein, dass sie die ungeimpften Bürger:innen zum Impfen bewegt, das heißt die Impfpflicht muss entsprechend wirksam umgesetzt werden, auch aus juristischer Perspektive. Aus psychologischer Perspektive halte ich es zusätzlich für sinnvoll, wenn den geimpften Personen der Nutzen einer solchen Maßnahme gut erklärt wird und den ungeimpften Personen Möglichkeiten geboten werden, sich auch noch freiwillig zu einer Impfung zu entscheiden, bevor negative Konsequenzen drohen. Je mehr Personen man noch vor der eigentlichen Pflicht vom Impfen überzeugen kann, desto geringer der Anteil derer, die stark reaktant reagieren. Und das wäre dann im Interesse sowohl der ungeimpften Personen als auch im Interesse der politischen Entscheidungsträger:innen.
In Österreich wird diskutiert, ob die dortige Impfpflicht auch für Kinder gelten soll. Was halten Sie davon?
Es gibt epidemiologische Argumente dafür, die Impfpflicht auch auf Kinder auszuweiten, da nur so entsprechend hohe Impfquoten in der Gesamtbevölkerung erreicht werden können. Unsere Studien haben gezeigt, dass die Impfbereitschaft von Eltern für ihre Kinder deutlich geringer ist als für sie selbst. Deshalb könnte aus psychologischer Perspektive eine Impfpflicht für Kinder natürlich potenziell zu mehr Kritik und Reaktanz führen.
Mit Robert Böhm sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de