Hamas-Massaker gab großen Schub Terrorexperte: Der IS sprang auf die Welle vom 7. Oktober auf
26.08.2024, 17:30 Uhr Artikel anhören
Der mutmaßliche Attentäter Issa al-H. wird zum Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gebracht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Drei Menschen starben mutmaßlich durch die Hand des Syrers Issa al-H. Der wird vom IS für seine Tat gefeiert. Heißt das, er handelte im Auftrag der Terrorgruppe? Wie groß ist die islamistische Gefahr? Seit dem 7. Oktober offenbar weit größer als zuvor.
War der mutmaßliche Attentäter von Solingen IS-Mitglied?
Das Bekenntnis der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) zum tödlichen Anschlag von Solingen wird von Terrorexperten für authentisch erachtet. Darin erklären die Terroristen, ein "Soldat des IS" habe den Angriff auf eine Versammlung von Christen in Solingen verübt. "Er hat den Angriff als Rache für Muslime in Palästina und überall ausgeführt", schreiben die Terroristen. Die Bluttat ist also ein IS-Anschlag. Dafür sprechen die Quellen und Kanäle, über die das Bekenntnis verbreitet wurde, unter anderem über die Medienagentur der Terrorgruppe selbst.
Noch unklar ist jedoch, wie genau der 26-jährige Syrer, der sich der Polizei gestellt hat, in Verbindung zum IS stand. Eine Mitgliedschaft in der Terrororganisation ist nicht zwingend erforderlich, um in ihrem Namen Terror zu verbreiten. Die Terrorgruppe ermuntert bereits seit etwa zehn Jahren überzeugte Islamisten zu Anschlägen aller Art und liefert in eigenen Online-Magazinen dazu Ideen. "Dazu gehören zum Beispiel das Fahren eines Autos in die Menge oder eben Angriffe mit Messern auf sogenannte Ungläubige. Das ist in fast jeder Ausgabe dieser Online-Magazine drin", sagt der Terrorexperte Peter R. Neumann im Podcast Ronzheimer.
Weder ist es nötig, sich dem IS für die Durchführung eines Attentats formal anzuschließen, noch müssen die Anschläge einem bestimmten Muster entsprechen. Wer im Westen sogenannte Ungläubige tötet, kann sich sicher sein, dafür anschließend von den islamistischen Terroristen in ihren Kanälen gefeiert zu werden.
Kann der mutmaßliche Attentäter völlig eigenständig gehandelt haben?
Die Variante, dass Issa al H. sich allein über das Internet radikalisiert haben könnte, ist durchaus denkbar. Die Bedeutung islamistischer Messenger-Gruppen im Netz, etwa auf Telegram, hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.
Noch vor zehn Jahren brauchte es laut Terrorismusforscher Peter R. Neumann für die Radikalisierung eines Islamisten einen persönlichen Kontakt in die Szene - etwa über einen radikalen Prediger oder eine radikale Moschee. In Städten wie Wolfsburg, Dinslaken oder auch Solingen habe man damals eine Häufung von Radikalisierungen festgestellt, "weil dort ein radikaler Prediger war oder eine radikale Moschee war, mit der man Kontakt haben konnte. Wo man zusätzlich zu dem, was man im Internet konsumiert hat, noch eine Person hatte, mit der man kommunizieren konnte", so Neumann im Podcast.
Aus Sicht des Terrorismusforschers ist das heute nicht mehr notwendig. In der Mehrzahl der Fälle, die Neumann in den letzten Monaten gesehen habe, hätten sich die Attentäter ausschließlich online radikalisiert, ohne physischen Kontakt in die Szene.
Wie gefährlich ist der Terrorismus von Islamisten derzeit für Deutschland?
Gefühlt hatte die militärische Zerschlagung des IS in Syrien und im Irak im letzten Jahrzehnt die Gefahr durch Islamisten verringert, schienen die Strukturen doch zerstört, die Träume eines "Kalifaten"-Staates geplatzt. Doch real ist die Gefahr von Anschlägen in Europa seitdem gewachsen. "Durch die Gebietsverluste in Syrien und im Irak ist die Rekrutierung für das 'Kalifat' nicht mehr primäres Ziel der IS-Propaganda. Sie ruft seit der Zerschlagung des 'Kalifats' vielmehr dazu auf, im Namen des IS eigenständig Anschläge in Deutschland und Europa zu planen und durchzuführen - mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln", schreibt die Menschenrechtsexpertin Maike Nadar, die an der Universität Düsseldorf unter anderem zu Extremismusprävention forscht.
Peter Neumann beobachtet seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 eine deutliche Zunahme terroristischer Aktivitäten. Es gebe eine riesige "Mobilmachung von Islamisten, von Dschihadisten überall in Westeuropa", sagte der Wissenschaftler schon im Frühjahr im Deutschlandfunk. Er sah im Islamismus und Dschihadismus "die größte, aktuelle terroristische Bedrohung in Deutschland, in Europa".
Die Terroroffensive der Hamas gegen Israel hat demnach als Motivationsschub gewirkt, der IS-Anhänger wieder online brachte, und von der Propaganda der Terrororganisation genutzt werden konnte und kann. Zwar hat es einige Zeit gedauert, bis die Dschihadisten verstanden, was die Hamas mit ihrem Gewaltexzess ausgelöst hatte - zumal zwischen IS und Hamas eigentlich keine Partnerschaft besteht. Dann jedoch beschlossen die Terroristen, sich an diese Welle mit anzuhängen. "Seit Januar gibt es sehr systematisch Propaganda vom IS, die sagt: Hört zu, wir wissen, ihr seid wütend auf Israel, aber es geht gar nicht um Palästina. Es geht um die Muslime in der ganzen Welt, die unterdrückt werden", so beschreibt Neumann die Aufrufe zu Terrorattacken.
Der IS rufe Muslime gezielt dazu auf, Teil des globalen Religionskriegs zu werden und überall auf der Welt Anschläge zu verüben. Deutschland selbst ist aus Sicht des Experten dabei kein besonderes Ziel, sondern ein Gegner unter vielen innerhalb der westlichen Welt.
Der Asylantrag von Issa al-H. wurde abgelehnt. Warum war er noch in Deutschland?
2022 kam Issa al-H. als syrischer Asylbewerber nach Deutschland, sein Antrag auf Asyl wurde jedoch abgelehnt. Allerdings waren die deutschen Behörden für den Syrer gar nicht zuständig. Die sogenannte Dublin-Verordnung, die in der EU gilt, besagt, dass grundsätzlich derjenige Mitgliedstaat den Asylantrag eines Flüchtlings prüfen muss, in dem er zuerst eingereist ist. Im Fall von Issa al-H. war das Bulgarien. Eine entsprechende "Überstellung" des Flüchtlings nach Bulgarien hätte gemäß der europäischen Regeln binnen eines halben Jahres erfolgen müssen.
Laut Medienberichten sollte al-H. im Juni 2023 nach Bulgarien überstellt werden. Das fand jedoch nicht statt, weil die Behörden ihn in der Flüchtlingsunterkunft in Paderborn, wo er zu der Zeit lebte, nicht antrafen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. War Issa al-H. jedoch untergetaucht, um sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, dann hätte sich die Frist für seine Überstellung nach Bulgarien von sechs Monaten auf 18 Monate verlängert. Die Behörden hätten somit viel länger, auch 2024 noch Zeit gehabt, um den Syrer nach Bulgarien zu überstellen.
Aus Behördenkreisen heißt es laut der Nachrichtenagentur dpa, der junge Mann habe sich seiner Rückführung nach Bulgarien tatsächlich entzogen. Statt ihn dank verlängerter Frist also zu einem späteren Zeitpunkt nach Bulgarien zu überstellen, wurde dem Syrer aber Ende 2023 von Deutschland subsidiärer Schutz gewährt. Er kam nach Solingen.
Den Status "subsidiär geschützt" bekommen viele Flüchtlinge, die nicht nachweisen können, dass sie tatsächlich persönlich verfolgt oder bedroht sind. Sie stammen aber aus einem Land, in dem generell große Gefahr für das Leben eines Flüchtlings herrscht. Das Assad-Regime in Syrien etwa behandelt alle aus dem Land Geflüchteten als Regimegegner und verfolgt sie in den Gebieten, die es unter Kontrolle hat. Eine Rückkehr wäre daher in einigen Teilen des Landes sehr gefährlich.
Im Falle von Issa al-H. hätten die deutschen Behörden jedoch offenbar 18 Monate lang Zeit gehabt, ihn an das für seinen Fall zuständige Einreiseland Bulgarien zu überstellen. Die Bulgaren hatten dem auch bereits zugestimmt. "Wir müssen schauen, ob alles richtig gelaufen ist. Wenn etwas schiefgelaufen ist, muss das klar benannt werden", sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst heute bei einem Statement in Solingen. Aus seiner Sicht zeigt der Fall Issa al-H., wie kompliziert den zuständigen Behörden ihre Arbeit gemacht wird.
Quelle: ntv.de