Berlin Tag & Macht Tränen lügen nicht: Der Kanzler is a Mensch!


Kanzler mit Kippa: Die Wiedereröffnung der Synagoge Reichenbachstraße ging Merz sichtlich nahe.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bei der Wiedereröffnung der Synagoge in München überrascht Friedrich Merz mit echter Emotion. Ein Moment der Menschlichkeit in Zeiten politischer Routinen. Doch folgt daraus endlich die entsprechende Politik - oder verhallen des Kanzlers Tränen schneller als der Applaus?
Emotion hat viele Gesichter. Wer mal auf der Südtribüne des Westfalenstadions stand, während Borussia Dortmund das Siegtor gegen den FC Bayern München erzielte, kennt einige davon. Man sieht sie in Kreißsälen nach Geburten oder in Kirchen bei Hochzeiten. Im Kanzleramt dagegen eher selten. Das emotionalste Gesicht, das man von Friedrich Merz kannte, zeigt ihn mit einem Teller Currywurst und Pommes in der Kantine des Deutschen Bundestags. Die Aussicht auf den vor ihm dahinvegetierenden "Kraftriegel der Sozialen Marktwirtschaft" ließ den späteren Bundeskanzler so ungewohnt euphorisch wirken, als hätte er gerade eigenhändig ein paar Klimakleber vor der Parkhauseinfahrt zum Bundestags-Fahrdienst weggekärchert.
Jenes Bild aus der Vorweihnachtszeit des Jahres 2021 dokumentiert zwei Dinge. Zunächst unterstreicht es die Bedeutung von Friedrich Merz als Innovationstreiber. Merz gab bereits den kulinarisch versierten Teilzeit-Foodblogger, als Markus Söder noch wahlweise das schnellstmögliche Verbrenner-Aus und die sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke forderte. Darüber hinaus entzaubert das Foto skurrile Aluhut-Theorien aus dem verschwörungstheoretischen Querdenker-Lager. Bei der "Bilderberger wollen uns mit Chemtrails zwangsimpfen"-Armada ist man sich nämlich sicher, Merz würde stets so emotionslos wirken, weil unsere Spitzenpolitiker längst durch Reptiloiden in Menschengestalt ersetzt wurden und seither als Marionetten einer bösen Schatten-Macht der Hochfinanz (oder wenn man Ursula von der Leyen fragt: den Juden) ferngesteuert werden.
Bei so viel QAnon-Vibes wirkt es fast versöhnlich, dass die Gaza-Flotilla-Komikerin Enissa Amani dieser Tage eine Instagram-Story löschen musste, nachdem ihr zahlreiche wissenschaftsaffine Fans erläutert hatten, die Erde sei keinesfalls eine Kugel, sondern selbstredend eine Scheibe. Eine These, für die es übrigens durchaus valide Evidenzansätze gibt. Richard David Precht beispielsweise saß schon seit mehr als vier Tagen nicht mehr bei "Markus Lanz". Da wäre es gar nicht so abwegig, dass Precht bei einem ausgiebigen Wutspaziergang so intensiv nachgedacht hat, dass er hochkonzentriert abgelenkt ein bisschen zu weit nach rechts marschiert und dann einfach vom Rand runtergefallen ist. Precht ("Wer bin ich - und wenn ja: wie viele?"), das nur für alle, die nie ein "Markus Lanz"-Plus-Abo hatten, gilt als Deutschlands zweitbekanntester Polit-Philosoph nach Wolfgang Kubicki ("Was trinke ich - und wenn ja: wie viele?").
Die Menschwerdung des Friedrich Merz
Der bisherige Expressivitätslevel im Mienenspiel von Friedrich Merz trug nicht dazu bei, derartige Gerüchte über die roboterartige Emotionslosigkeit unserer Spitzenpolitiker als ferngelenkte Erfüllungsgehilfen der Hinterzimmer-Eliten zu entkräften. Bislang zeigte Merz konsequent Gefühlswallungen, die an die emotionale Dynamik eines Öltankers erinnerten. Die fehlende Virtuosität bei Gemütsbewegungen ließ Merz oft professionell wirken, zuweilen aber auch kalt.
Seine beinahe mechanische Vortragsgestik ließ Sätze wie "Die sexuelle Orientierung geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und nicht Kinder betrifft, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion" unbehaglich inhuman wirken. Eine empathielose Einlassung, die sogar Parteifreund Jens Spahn auf Distanz gehen ließ: "Wenn die erste Assoziation bei Homosexualität Gesetzesfragen oder Pädophilie ist, dann müssen Sie eher Fragen an Merz richten." Eine Beurteilung, die Spahn einige Jahre später womöglich den ersehnten Ministerposten im Kabinett Merz kostete. Rache wird bekanntlich kalt serviert. Und hat selten ein Verfallsdatum.
Die Zeiten, in denen Merz für den Prototypen der machtgesteuerten, emotionalen Komplettlähmung gehalten wurde, sind seit dieser Woche vorbei. Überraschend sensibel und bemerkenswert gerührt zeigte sich Merz in der Synagoge Reichenbachstraße. Das einzige in München erhalten gebliebene jüdische Gotteshaus aus der Vorkriegszeit wurde im Jahr 1938 bei den Novemberpogromen stark beschädigt und nun umfassend restauriert. Zur feierlichen Wiedereröffnung sprach auch der deutsche Regierungschef. Ein wichtiger Anlass, insbesondere in diesen Zeiten. Aber auch einer, bei dem man erwartet hätte, der Kanzler würde eine weitere gut vorbereitete, aber leidenschaftslos vorgetragene Pflichtrede halten, von der anschließend nicht viel mehr bleiben würde als ein hübsches Gruppenfoto vor historischer Kulisse.
Tränen lügen nicht (immer)
Wir alle, ich eingeschlossen, wurden eines Besseren belehrt. Und müssen unser Erwartungsmanagement an das menschliche Format von Friedrich Merz sowie seine Authentizitätsfähigkeit neu justieren. Vor 450 Gästen, darunter Charlotte Knobloch, Israels Botschafter Ron Prosor oder Brahms-Testimonial Igor Levit, entglitt Merz bei seiner Rede plötzlich die staatsmännische Contenance und ließ ihn mit Tränen kämpfen. Echte, bittere Tränen einer ihn überwältigenden Scham, Trauer, Hilflosigkeit, Anteilnahme und Wut, die man nicht inszenieren kann. Keine Krokodilstränen im professionellen Mitgefühl-Modus, den viele Politiker jederzeit aktivieren können, sobald sie eine Situation identifizieren, in der sie feinfühlige Philanthropie und tränenintensives Bedauern für Image-relevant halten.
Als Merz die unmenschlichen Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden anspricht, bricht ihm die Stimme weg. Für einige Augenblicke der puren Menschlichkeit schießen ihm Tränen in die Augen. Der wiederholte Appell jiddisch sprechender Holocaust-Überlebender "Sej a Mensch": Merz ist- natürlich! - einer. Der Kanzler versucht für einen kurzen Moment, durch emotionskühlendes Luftanhalten und Konzentration auf protokollarische Souveränitätsanforderungen, seine Emotionen zu unterdrücken. Es gelingt ihm nicht. Leicht verunsichert, wie seine Gefühlsregung aufgenommen werden, zappelt er vom linken auf das rechte Standbein und zurück, während er sich suchend im Auditorium umschaut. Welche Hilfe auch immer er dort erhofft, am Ende entdeckt er wohl nur Markus Söder, dem vor Schreck über die unverhofft entfesselte Empathie des Kanzlers beinahe sein koscherer Döner aus der Hand fällt.
Ich bin kein überschwänglicher Merz-Fan, rechne ihm diesen ehrlichen Gefühlsausbruch aber hoch an. Es ist ein behagliches Gefühl, von einem Kanzler regiert zu werden, der nicht in jeder Situation wie eine Maschine durchfunktioniert. Auch in meinem direkten Umfeld herrscht nur überschaubarer Bedarf an BRAVO-Starschnitten von Friedrich Merz. Aber selbst die kompromisslosesten Unions-Nörgler zollen ihm für diesen Auftritt Respekt. Daran ändert sich auch nichts, als Merz irgendwann die Fassung zurückerlangt und sich im Verlaufe seiner Rede einen Seitenhieb auf das Merkel-Mantra "Wir schaffen das" nicht verkneifen kann: "Wir haben in Politik und Gesellschaft zu lange die Augen davor verschlossen, dass von den Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, ein beachtlicher Teil in Herkunftsländern sozialisiert wurde, in denen Antisemitismus geradezu Staatsdoktrin ist, Israelhass schon Kindern vermittelt wird."
Quo Vadis, Israelpolitik?
Nun sind nicht alle Diskursteilnehmer so kulant wie ich. Erfahrungsgemäß sitzt die Rassismuskarte leider recht locker in diesen Tagen. Folglich lassen ideologiegetriebene Gegenreden nicht lange auf sich warten. Ausgerechnet selektivpazifistische Nahostexperten, die Kritikern ihrer einseitigen Kommunikationsstrategie zum Gaza-Krieg stets erklären, man sei nicht automatisch Steigbügelhalter einer Terrororganisation, nur weil man Israel Kriegsverbrechen und Genozide vorwirft, Hamas aber mit keinem Wort erwähnt, wollen Merz aus seinem Satz nun einen Strick drehen: Er habe zwar ein womöglich existierendes Problem des importierten Antisemitismus erwähnt, die viel größere Gefahr aus rechtsextremistischen Kreisen aber verschwiegen.
Womit wir unmittelbar bei der entscheidenden Frage wären: Was erwächst aus Merz eindrucksvollem Auftritt? Konvertiert des Kanzlers ehrliche Betroffenheit in weniger konfuser Israel-Politik - oder geht der Zickzack-Kurs weiter? Aktuell muss man bei unserer Regierung täglich mit Aussagen rechnen, die sich proportional umgekehrt zu denen des Vortages verhalten. Ein Punkt, der auch für alle Jüdinnen und Juden in Deutschland von zentraler Bedeutung ist. Hier hat sich Merz mit seinem Empathie-Comeback selbst in die Pflicht genommen. Wird er seinem eigenen Anspruch gerecht? Oder verhallt seine Anteilnahme letztendlich doch in gestenreichen, aber ergebnislimitierten Resonanzräumen der Tatenlosigkeit? Die Tränen von München hatten Gewicht, weil sie ehrlich waren. Entscheidend wird jedoch sein, ob sie in einer klaren politischen Linie münden, die jüdisches Leben schützt und Antisemitismus aus allen Richtungen bekämpft. Denn Emotionen sind ein starker Hebel, ohne Taten jedoch bleiben sie folgenlos.
Quelle: ntv.de