Politik

Ein fast gutes Jahr für die EU Und dann kam Kaili …

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(Foto: via REUTERS)

Nicht immer gab die EU in Krisenzeiten ein gutes Bild ab, 2022 war das anders: Geschlossen wie selten antwortete Brüssel auf Russlands Invasion in die Ukraine und deren Folgen - nur, um dann doch wieder mit den eigenen Dämonen konfrontiert zu sein.

Der 13. Dezember hätte ein guter Tag werden können für Europa. Nach Jahren, in denen Ungarns Präsident Viktor Orbán die Europäische Union an der Nase herumgeführt hatte, rangen sich Brüssel und die Mitgliedstaaten endlich zu Sanktionen durch - und froren 6,3 Milliarden Euro an EU-Mitteln für das Land ein. Die Botschaft, dass der systematische Abbau der Rechtsstaatlichkeit durch Orbáns Regierung nicht unbeantwortet bleibt, sollte über Ungarn hinaus gehört werden. Doch dann kam Eva Kaili. Infolge eines beispiellosen Korruptionsskandals verlor die 44-Jährige am gleichen Tag ihren Posten als Vize-Parlamentspräsidentin. Ihre Absetzung bestimmte alle Schlagzeilen.

Wer es positiv sehen will, kann argumentieren, dass der Fall Kaili bewiesen hat, wie gut die EU-Kontrollmechanismen funktionieren. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich gerade Kritiker in ihrer pauschalen Annahme bestätigt fühlen, die EU-Institutionen würden seit Jahren von Lobbyisten unterwandert und Brüssel sei nicht viel mehr als ein Selbstbedienungsladen. Der Imageschaden ist groß - und das, obwohl die EU eine durchaus vorzeigbare Jahresbilanz abliefern kann. Anders als in den Vorjahren, als entscheidende Maßnahmen immer wieder an der Uneinigkeit der Mitglieder scheiterten, präsentierte sich Europa in diesem Jahr erstaunlich geschlossen.

Durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russlands Präsident Putin die EU zusammenrücken lassen. Die Signale an den Kreml waren unmissverständlich: Trotz der Querschläge Orbáns einigten sich die Mitgliedstaaten nicht nur auf Milliardenhilfen für die Ukraine, sondern auch weitreichende Sanktionen gegen Russland - darunter den Importstopp für russisches Öl auf dem Seeweg. Auf Putins Versuche, einen Gaskrieg zu entfesseln, hat sich Europa weitgehend eingestellt. Und der Wille, aus Fehlern zu lernen, hat in einem wichtigen Punkt zum Umdenken geführt: Während sich die EU-Staaten in diesem Winter gegenseitig bei Gaseinkäufen überboten und so den Preis für alle hochtrieben, soll im kommenden Winter gebündelt eingekauft werden.

Einiges auf der Haben-Seite

Selbst in der Klimapolitik, die angesichts des Krieges und der Energiekrise unter den Tisch zu fallen drohte, kann Brüssel zum Ende des Jahres Fortschritte vorweisen: Die gerade erst beschlossene Reform des Emissionshandels verteuert den klimaschädlichen CO2-Ausstoß künftig sowohl für Unternehmen innerhalb als auch außerhalb der EU, selbst der Luftverkehr bildet ab 2026 keine Ausnahme mehr. Für Privatverbraucher soll ab 2027 zusätzlich das Fahren mit einem Verbrenner oder das Heizen mit Gas kostspieliger werden. Über allem steht das Ziel, die europaweiten Emissionen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren.

Für Brüssel steht einiges auf der Haben-Seite - und dennoch bleiben viele Baustellen. In der Flüchtlingsfrage ist nach wie vor keine gangbare Lösung zur solidarischen Verteilung der Menschen gefunden worden. Von 8000 Migranten, die über den "freiwilligen Solidaritätsmechanismus" auf insgesamt 13 teilnehmende Staaten verteilt werden sollten, haben nach Angaben von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson bis Ende November erst rund hundert Menschen ein Aufnahmeland gefunden. Die "Koalition der Willigen" ist gescheitert. Zugleich kommen seit Jahresbeginn wieder mehr Menschen über die Westbalkan-Route. Bis Ende November gab es etwa 308.000 illegale Grenzübertritte in die EU - ein Anstieg um 68 Prozent zum Vorjahr.

Sicherheit, Inflation, Korruption

Europa steht einer neuen Flüchtlingskrise völlig blank gegenüber. Immer mehr EU-Staaten an den Außengrenzen verzichten zudem auf die Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex - hauptsächlich, um das Problem der illegalen Grenzübertritte "in Eigenregie" angehen zu können. Die NGO Lighthouse Reports hatte zuletzt von mehreren illegalen Abschiebegefängnissen entlang der EU-Außengrenze in Bulgarien oder Ungarn berichtet, auch in Kroatien habe es illegale Pushbacks gegeben. In Griechenland war Frontex lange selbst in die rechtswidrige Zurückweisung von Flüchtlingen verwickelt, der damalige Chef Fabrice Leggeri musste deshalb seinen Hut nehmen - doch auch nach dem Skandal hat sich an der Intransparenz der Behörde nichts geändert.

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Streit droht auch mit Blick auf die künftige europäische Sicherheitsarchitektur. Europa hadert mit der Antwort auf die Frage, ob und in welcher Form es einen Dialog mit Russland geben sollte. Der Appell von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an die Staats- und Regierungschefs, auch die Sicherheitsinteressen Moskaus im Blick zu behalten, stieß vor allem im Baltikum, in Slowenien und in Polen auf Unverständnis. Dort fürchtet man, dass allein eine stärkere Bewaffnung zur Abschreckung nicht ausreichen und Putin einen schlechten Krieg einem guten Kompromiss im Zweifel jederzeit vorziehen wird. Nach ihrem Verständnis müssen auch Paris und Berlin endlich die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts gegen die EU akzeptieren, statt die Gefahr weiter zu bagatellisieren.

Wie realitätsfest Europas Antwort auf den Krieg in der Ukraine ist, wird sich im neuen Jahr nicht nur im Umgang mit dem Kreml zeigen. Um unabhängiger von russischem Öl und Gas zu werden, haben sich Deutschland und andere EU-Staaten neue Partner gesucht - darunter ausgerechnet Katar, wo man nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen Kaili nicht lange zögerte, der EU die neuen Machtverhältnisse unter die Nase zu reiben. Auf Forderungen, den katarischen Interessenvertretern vorerst den Zugang zum EU-Parlament zu verwehren, reagierte Doha verschnupft. Eine Sperre werde "einen negativen Effekt auf die derzeitigen Gespräche über die globale Energieknappheit und -sicherheit" haben, hieß es. Gas gegen politische Einflussnahme? Die Glaubwürdigkeit der EU steht einmal mehr auf dem Prüfstand.

Quelle: ntv.de

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