Schul- und Kita-Öffnungen Warum dauert das alles so lange?
10.06.2020, 17:17 UhrEs hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis in die Debatte um Schul- und Kita-Öffnungen Bewegung gekommen ist. Und Monate nach dem Lockdown müssen Millionen Eltern ihre Kinderbetreuung immer noch selbst stemmen. Warum ist das so?
Geschäfte haben geöffnet, Restaurants bedienen wieder Gäste. Ein kühles Bier im Biergarten? Kein Problem. Die Corona-Maßnahmen sind gelockert. Auf dem Berliner Landwehrkanal feiern Tausende eine Bootsparty, in mehreren deutschen Städten gehen Zehntausende gegen Rassismus demonstrieren - ganz ohne Abstandsregeln. Die Bundesliga spielt wieder, und der Urlaub ist gerettet. Doch ein Lebensbereich scheint bei der Öffnungspolitik unumstößlich an allerletzter Stelle zu stehen: Schulen und Kitas. Immer noch verbringen Millionen Kinder ihre Tage zu Hause, müssen von ihren Eltern geschult, bespaßt und versorgt werden.
Die gute Nachricht für Eltern lautet: Nachdem die Debatte um die Wiedereröffnung lange stillzustehen schien, bewegt sich etwas. Hessen will den Grundschulbetrieb zum 22. Juni normalisieren. Berlin und Brandenburg haben am Dienstag die Rückkehr zum Normalbetrieb in Kindertagesstätten angekündigt, Brandenburg auch in den Schulen. In Niedersachsen ist nach Worten des zuständigen Ministers ein "Quasi-Regelbetrieb" in Kitas in Sicht. In Nordrhein-Westfalen sollen zumindest ab dem 15. Juni wieder alle Kinder im Grundschulalter täglich zur Schule gehen. Auch Bayern lässt seine Schüler ab Mitte Juni wieder wochenweise in die Schule. In Hamburg sollen Schüler zumindest einmal pro Woche zur Schule gehen können. Auch die übrigen Bundesländer haben die Schulen zumindest teilweise wieder geöffnet und Termine für die Wiedereröffnung der Kitas genannt. Ein wenig Normalität kommt zurück ins Leben der Eltern in diesem Land. Aber warum hat das so lange gedauert?
Schon die Schließung von Schulen und Kitas war von einer heftigen Kontroverse begleitet. Auf der einen Seite warnten etwa die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das Robert-Koch-Institut (RKI) vor einem hohen Infektionsrisiko in Schulen und Kindertageseinrichtungen. Auf der anderen Seite warnten Elternvertreter und auch die Nationale Akademie der Wissenschaften vor drastischen Folgen vor allem für schwache Schülerinnen und Schüler und vor den enormen Belastungen für die Familien. Die Politik gab aber letztlich der Vorsicht den Vorzug vor pädagogischen Bedenken. Die Bundesländer entschlossen sich Mitte März dazu, Schulen und Kitas nahezu vollständig zu schließen - mit den entsprechenden Folgen für Kinder und Familien.
Anteil von Neuinfektionen bei jungen Menschen steigt
Die Quellenlage für die Annahme, dass sich Kinder untereinander ähnlich wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher als Erwachsene anstecken, ist aber dünn. Eine von Forschern um den Charité-Chefvirologen Christian Drosten Ende April vorab veröffentlichte Studie kam zwar genau zu diesem Schluss. Sie war aufgrund der Corona-Einschränkungen aber nicht unter realen, sondern unter Laborbedingungen entstanden und hatte wegen des Zeitdrucks die kritische Begutachtung anderer Wissenschaftler, das "Peer-Review-Verfahren", nicht durchlaufen. Ende Mai entstand eine von der "Bild"-Zeitung angeheizte Debatte darüber, ob Drosten mit falschen Studienergebnissen die Politik beeinflusst habe.
Vor diesem Hintergrund warnte der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit im Interview mit ntv.de vor einem Missverhältnis zwischen Exekutive und Wissenschaft: Politik habe "das Problem, dass sie extrem unter Druck steht, sie muss schnelle Entscheidungen treffen. Druck zu machen, ist aber nicht der Weg der Wissenschaft."
Aber gibt es Hinweise, dass sich der Verdacht bestätigt? Tatsächlich findet sich in den Tagesberichten des RKI zur Entwicklung der Pandemie eine Entwicklung, die bedenklich stimmen könnte. Nachdem in den ersten Bundesländern Schulen und Kitas teilweise wieder geöffnet wurden, ist der Anteil der Neuinfektionen bei jungen Menschen im Alter von 0 bis 19 Jahren stark gestiegen. Während ihr Anteil an allen neuen Ansteckungen Anfang Mai noch bei unter 10 Prozent lag, ist er inzwischen auf mehr als 20 Prozent gestiegen. Die Gesamtzahl der Neuinfektionen ist in diesem Zeitraum zwar von rund 1000 am Tag auf nunmehr rund 350 am Tag gesunken. Doch die Zahl der Neuninfektionen bei Kindern und Jugendlichen folgt diesem Trend nicht und sank nur leicht von 85 pro Tag auf knapp unter 70 am Tag.
Weitere Argumente, warum die Politik in Deutschland bei der Wiedereröffnung von Schulen und Kitas so zögerlich vorgeht, könnten sich im Ausland finden. Vor knapp einem Monat verkündete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den "Sieg" über die Pandemie. Kurz zuvor hatten die Schulen des Landes wieder den Normalbetrieb aufgenommen. Bis Ende des Monats fiel die Zahl der Neuinfektionen. Am 25. Mai stand ihr Sieben-Tages-Durchschnitt bei gerade einmal 13 neuen Ansteckungen.
"Ich frage mich, ob es überhaupt einen Plan A gibt"
Doch nun steigen die Zahlen wieder deutlich. Am 6. Juni meldete das Land 190 Neuinfektionen - der höchste Wert seit Ende April. Allein in einem einzigen Gymnasium in Jerusalem wurden demnach in der vergangenen Woche 130 Menschen positiv getestet - 116 Schüler und 14 Lehrer. Am Mittwoch musste Netanjahu seine Siegeserklärung zumindest teilweise revidieren; er erklärte, dass jede Schule, sobald es an ihr einen Corona-Fall gebe, geschlossen werde. Seither ruht in etwa 130 Schulen und Kindergärten der Betrieb. Rund 17.500 Schüler sind wieder zu Hause. Auch in anderen Staaten steigen die Zahlen wieder, etwa in Südkorea. Dass ein Zusammenhang mit den Schulöffnungen besteht, wird zwar vermutet, ist aber nicht bestätigt.
Eine solche zweite Welle hat es in Deutschland nicht gegeben, nur regionale Ausbrüche. Einmal gingen sie von einer Betriebsfeier in einem Restaurant in Ostfriesland aus, zweimal von religiösen Feierlichkeiten in Frankfurt und Göttingen. Zumindest im letztgenannten Fall hat sich das Infektionsgeschehen aber derart dynamisch entwickelt, dass Schulen und Kitas wieder geschlossen werden mussten. Göttingen kratzt derzeit an der Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen und könnte damit in einen neuen Lockdown steuern.
Und dann? Bisher gibt es wenig Hinweise darauf, wie genau die Politik auf eine mögliche zweite Welle reagieren will. Szenarien und Empfehlungen gibt es - etwa die einer Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Gestaltung des Schuljahres 2020/21. In Berlin verkündete Bildungssenatorin Sandra Scheeres gestern, dass Schulen und Kitas bald zum Regelbetrieb zurückkehren werden. Detailfragen zum Infektionsschutz, zu Gruppengrößen, zum Vorgehen bei einem neuerlichen Anstieg aber bleiben unklar. "Was vor drei Monaten noch mit einer recht plötzlichen Pandemie plausibel begründet werden konnte, liest sich heute eher als hilfloses Stochern nach Lösungen, die ein Recht auf Bildung mit der Infektionsgefahr abwägen", lautet das Fazit des Berliner "Tagesspiegel".
Wenig nachvollziehbar ist das Vorgehen der Politik auch für den Vorsitzenden des Bundeselternrates, Stephan Wassmuth. Auf die Frage, wie er es bewerte, dass die Landesregierungen anscheinend keinen "Plan B" hätten, sagt er ntv.de: "Ich frage mich, ob es überhaupt einen Plan A gibt." Wassmuth begrüßt, dass Schulen und Kitas als beinahe letzter Lebensbereich wieder allmählich in den Normalbetrieb wechseln. "Aber wir hätten uns Pläne gewünscht, wie es weitergehen soll." Die Öffnungen nun seien einzig dem öffentlichen Druck geschuldet. Er äußert die vorsichtige Hoffnung, dass sich durch die Erkenntnisse aus der Corona-Zeit im Bildungssystem etwas zum Guten ändern könne. "In der Corona-Krise haben wir über Probleme geredet, die alle vorher schon da waren", sagt er. Zu wenige Lehrer, zu langsame Digitalisierung und marode Schulen habe es zuvor auch gegeben. "Finanzminister und Kämmerer vor Ort haben immer die Bildungspolitik diktiert". Aus der Corona-Krise müssten Konsequenzen gezogen werden. "Ich hoffe, dass sich in unserem Schulsystem etwas bewegt."
Quelle: ntv.de