Politik

Die grünen Realos triumphieren Waziristan ist überall

Winfried Kretschmann: "Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten."

Winfried Kretschmann: "Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten."

(Foto: picture alliance / dpa)

Es war ein Tabubruch für die Ökopartei: Der grüne Landesfürst Kretschmann beschaffte Schwarz-Rot eine Mehrheit für eine verhasste Reform des Asylrechts. Auf ihrem Parteitag in Hamburg erwarteten viele deshalb eine Abrechnung. Es kam anders.

Der Satz klingt wie eine Binsenweisheit: "Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten." Auf dem Parteitag der Grünen in Hamburg hat er aber eine gewisse Komplexität. Besonders, weil es Winfried Kretschmann war, der diesen Satz aussprach.

Dem grünen Ministerpräsidenten drohte bei der Debatte über eine "Humane Flüchtlingspolitik" eigentlich die Stunde der Abrechnung – weil er einen Kompromiss eingegangen ist, der für etliche Grüne einen Tabubruch darstellte. Ausgerechnet Kretschmann gelang es aber, die Delegierten im Hamburg mit dem Geist des Kompromisses zu infizieren.

Kretschmann hat der Großen Koalition mit der Stimme Baden-Württembergs im Bundesrat eine Mehrheit für eine umstrittene Reform des Asylrechts beschafft. Drei Balkanländer, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, gelten dadurch als "sichere Herkunftsstaaten". Asylanträge von Flüchtlingen aus diesen Ländern kann die Bundesrepublik jetzt ohne großen Aufwand abschmettern.

Kretschmann ließ sich darauf ein, weil ihm Union und SPD im Gegenzug versprachen, Asylbewerbern in Deutschland die Arbeitsaufnahme zu erleichtern und die unter Grünen verhasste Residenzpflicht aufzuheben. Es war eine Entscheidung des Realpolitikers Kretschmann. Viele, vor allem linke Parteikollegen, sahen darin einen Bruch der reinen grünen Lehre. Die Ökopartei kritisiert schließlich seit jeher jede Aufweichung des Rechts auf Asyl in Deutschland.

"Die wirklichen Probleme haben nicht wir"

Zunächst sah es denn auch nach jener Abrechnung aus. Kaum hatte Kretschmann das Rednerpult betreten, marschierte ein Tross der grünen Jugend vor die Bühne. Die jungen Politiker hielten Plakate hoch. "Asylpolitik ohne Kompromisse" stand darauf. Oder: "Das ist nur der Gipfel des Eisbergs". Und für ihren Auftritt heimsten sie kräftigen Applaus ein.

Doch Kretschmann erwiderte: Er habe bei seiner Entscheidung für den Kompromiss "skrupulös" mit sich gerungen. Er beschrieb, wie schwierig es sei, in Regierungsverantwortung mit einem Koalitionspartner und einer "fragilen Empathie" der Bürger mit Flüchtlingen, Politik zu machen.  Er verwies auch auf das Dilemma überforderter Kommunen. "Die wirklichen Probleme haben nicht wir, die wirklichen Probleme haben die Flüchtlinge", schob er aber prompt nach. Heftiger Applaus.  Dann fiel sein Satz über die Logik des Kompromisses.

Ein Fest für Realpolitiker

Der Bundesvorstand hatte sich schon zuvor dafür entschieden, sich nicht an Kretschmann abzuarbeiten. Die Parteispitze wollte nicht noch mehr Konflikt in der schwer zerstrittenen Partei sähen. In ihrem Leitantrag bewertete sie die Entscheidung des Landesfürsten deshalb nicht ausdrücklich. Spätestens durch seine Rede holte Kretschmann sich aber auch den Rückhalt der Delegierten.

Stehende Ovationen wollte Kretschmann zwar nur die Hälfte von ihnen gönnen. Mitklatschen taten aber fast alle. Zwar ertönte in der Debatte über "Humane Flüchtlingspolitik" laute Kritik, doch schon darin schwang der Geist des Kompromisses mit. Theresa Kalmer von der Grünen Jugend schmetterte: Jetzt gebe es Asylbewerber erster und zweiter Klasse. "Ich glaube, dass bei jedem Kompromiss auch rote Linien da sind, die man nicht überschreiten sollte." Sie nahm Kretschmann aber auch ab,  dass ihm die Entscheidung "nicht leicht gefallen" sei. Sie verwies nur ein paar Sätze später darauf, dass die eigentlichen Gegner der Grünen doch vor allem die Rechtsextremen, Rechtspopulisten und allzu Konservativen seien.

Nancy Fackeldey zählte zu den wenigen, die überhaupt nicht von der reinen grünen Lehre abrücken wollten. Sie stellte einen Änderungsvorschlag zum harmoniebedürftigen Leitantrag des Bundesvorstands zur Abstimmung. Darin war ausdrücklich die Rede davon, dass Kretschmanns Entscheidung ein Fehler gewesen sei. Doch die Delegierten folgten nicht. Der Leitantrag des Bundesvorstands ging mit wenigen Gegenstimmen durch.

Und so verwunderte es kaum, dass Kretschmanns Lager die Debatte als Triumph feierte. "Es wurde Rücksicht genommen auf die jeweils anderen Positionen", sagte der grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer n-tv.de kurz danach. "Winfried Kretschmanns Standpunkt, Verantwortung für sein Land zu übernehmen, wurde akzeptiert, wenn sich auch viele anders entschieden hätten." Ein Fest für grüne Realpolitiker.

Der Oberlinke Jürgen Trittin bezeichnete Kretschmanns Realo-Hochburg Baden-Württemberg kürzlich abfällig als "Waziristan", in Anspielung an den Rückzügsort der Taliban in Pakistan. Gegen Ende der Flüchtlingsdebatte drückte sich der frühere Fraktionschef auffällig nahe am Ausgang des Parteitags herum, so als würde er am liebsten sofort gehen. Zumindest an diesem Tag schien sich der kompromissfreundliche Realo-Geist "Waziristans" bis nach Hamburg zu erstrecken.

Quelle: ntv.de

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