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Wenn der Spannungsfall eintritt "Angriffe auf deutsche Kliniken, Energienetz und Finanzsystem werden wir auf jeden Fall haben"

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Zivilschutzübung in NRW: Nach einem Drohnenangriff klären Einsatzkräfte den Bereich auf.

Zivilschutzübung in NRW: Nach einem Drohnenangriff klären Einsatzkräfte den Bereich auf.

(Foto: IMAGO/Jochen Tack)

Funktioniert Deutschland noch, wenn Kremlchef Wladimir Putin die Nato ins Visier nimmt? Die Notfallgesetze sind völlig veraltet, sagt Sicherheitsexperte Ferdinand Gehringer und erklärt ntv.de, warum Firmen öfter Stromausfall üben müssten und man auch im Verteidigungsfall lecker essen soll.

ntv.de: Herr Gehringer, Sie haben sich gerade monatelang mit Szenarien eines möglichen "Ernstfalls" in Deutschland beschäftigt. Wie viele Dosen Linsensuppe haben Sie in der Abstellkammer?

Ferdinand Gehringer: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) empfiehlt Vorräte für zehn Tage. Ich fürchte, die würde ich nicht überleben. Mit Essensvorräten - Risotto, Nudeln, dazu ein paar Einmachgläser - kämen wir zu Hause etwa sieben Tage aus. Gasvorrichtung plus Kerzen sind vorhanden. Aber 60 Liter Wasser lagern in einer kleinen Wohnung - das ist ein Problem. Dieser Vorrat ist auf dem Land, im Einfamilienhaus sicher einfacher zu lagern. Bei dieser Ernährungsfrage ist aber ein anderer Punkt eigentlich entscheidender.

Und der wäre?

Heute gibt es kaum noch die kleine Bäckerei um die Ecke. Stattdessen beherrschen Großbäckereien und Supermarktketten die Branche. Wenn aber deren Lieferketten gestört sind, und das läge in einem Krisenfall ja sehr nahe, stellt sich die Frage: Wie halten wir deren Produktion aufrecht und schaffen die Versorgung in der Fläche?

Ferdinand Gehringer ist Experte für Innere und Cybersicherheit bei der Konrad Adenauer Stiftung und Mitautor des Buches "Deutschland im Ernstfall".

Ferdinand Gehringer ist Experte für Innere und Cybersicherheit bei der Konrad Adenauer Stiftung und Mitautor des Buches "Deutschland im Ernstfall".

(Foto: privat)

Die Empfehlungen des BBK an Privathaushalte richten sich darauf aus, zehn Tage lang ohne Stromversorgung kochen zu können. Die Vorstellung, man esse dann zehn Tage am Stück Dosen-Ravioli oder schmiere sich Thunfisch auf hartes Brot, halte ich für veraltet. Da plädiere ich dafür, Krise zu normalisieren und bei der Ernährung kreativer zu werden. Estland hat eine Zivilschutz-App, die schlägt einem im Verteidigungsfall dann auch mal ein Rezept für Perlgraupen-Risotto vor.

Der Bund hält offenbar für Krisenfälle große Mengen an Kondensmilch und Trockenhirse für die Bevölkerung vor. Gut?

Auch Weizen und Gerste werden gelagert, aber wer soll das alles verarbeiten? Der Landwirtschaftsminister hat vor kurzem den Impuls gesetzt, diese Notfallreserve mal an die aktuelle Zeit anzupassen, das halte ich für klug. Das Ernährungssicherstellungsgesetz, das diese Dinge festschreibt, stammt schließlich noch aus Zeiten des Kalten Krieges. Da ist nichts modernisiert. In großen Zentral-Depots sind Tonnen von Lebensmitteln eingelagert. Diese Struktur ist extrem anfällig. Als Gegner suche ich mir drei Lager aus, setze die zum Beispiel in Brand und schaffe mal kleine oder größere Versorgungsengpässe. Diese Versorgung muss bundesweit viel breiter und kleinteiliger werden, dann wird auch die Logistik gleich viel einfacher.

Sie hatten Einblick in die Schaltstellen der Notfallversorgung. Hat Sie das beruhigt oder hoffen Sie nur noch, dass wir nie in die Situation kommen?

Ich fürchte, es überwiegt die Hoffnung, dass es nie ernst wird. Aber ich kann auch Positives berichten: Wir sind noch nachhaltig beeindruckt von der Corona-Pandemie, als die Situation in den Supermärkten ähnlich aussah wie das, was im sicherheitspolitischen Ernstfall auf uns zukäme. Bestimmte Waren wurden knapp, also hat mehr Sicherheitspersonal die Waren geschützt. Schilder schrieben vor, den Kauf von Artikeln wie Klopapier auf eine Packung pro Person zu beschränken. Damals haben wir recht schnell in einen guten Krisenmodus umgeschaltet.

Aber die Behörden wären im Krisenfall zu spät? Aus der Ahrtal-Flut gibt es Berichte, wie Anrufe bei zuständigen Stellen eingingen: "Hier steht alles unter Wasser! Wir brauchen Hubschrauber, um Leute zu retten!" Und die Amtsperson am Telefon sagte: "Einen Hubschraubereinsatz müssen Sie bitte schriftlich beantragen." Da denkt man sich: Deutschland hat im Notfall keine Chance.

Wir haben uns alle Vorsorge- und Sicherungsgesetze angeschaut. Die regeln zum Beispiel Befugnisse im Spannungsfall. Dann darf der Staat Dinge tun, die er sonst nicht tun darf, auch in unser privates Leben eingreifen. Wenn Sie Ärztin sind, kann man Sie verpflichten, irgendwo Verletzte zu versorgen. Haben Sie ein Grundstück? Das darf man enteignen und dort Verteidigungsanlagen bauen. Textilhersteller kann man verpflichten, ab sofort Schutzwesten herzustellen. Die Deutsche Bahn oder Speditionen müssen Militärgerät transportieren. Die Stromversorgung darf eingeschränkt werden, weil die Energie für Militärzwecke benötigt wird. Priorisierung, Unterstützung, Umverteilung - darum geht es in diesen Gesetzen.

Klingt erstmal ganz pragmatisch und zupackend.

Ja, aber nur das Energiesicherungsgesetz ist auf aktuellem Stand, weil es im Zuge der Gaskrise modernisiert wurde. Alle übrigen Gesetze sind veraltet, sie passen auf die Lebenssituation vor 50 Jahren, aber nicht auf die heutige. Unsere Versorgungsstrukturen haben sich völlig verändert und basieren inzwischen auf nahezu perfekt funktionierendem globalen Warenaustausch. Der wird sofort gestört sein, wenn in Europa ein größerer Konflikt aufbricht. Wir spüren die Auswirkungen ja schon, wenn im Roten Meer mal ein Tanker quersteht.

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In einem Konflikt zwischen der Nato und Russland würde Deutschland kaum zum Frontstaat werden. Eher zu einem Logistikbetrieb, durch den Hunderttausende Soldaten samt Gerät Richtung Osten transportiert würden. Wären wir darauf vorbereitet?

Auf militärischer Seite gibt es dafür inzwischen den sogenannten "Operationsplan Deutschland", der für solche Szenarien Abläufe festlegt, Verantwortung zuweist und 1000 Seiten umfasst. Für das zivile Leben existiert nichts Vergleichbares. Uns muss aber klar sein, dass wir als Logistik-Drehscheibe auch ein Angriffsziel zum Beispiel für Russland wären.

Vor zwei Monaten wurden in Berlin mehrere Starkstromleitungen durch einen Brandanschlag zerstört. Könnte Russlands hybride Kriegsführung so aussehen?

Unsere schlecht geschützten Umspannwerke und Freileitungen könnten jederzeit und mit einfachsten Mitteln attackiert werden. Nach dem Brandanschlag in Berlin dauerte es drei Tage, bis alle betroffenen 50.000 Haushalte wieder Strom hatten. Wie einzelne Drohnen einen Flughafen lahmlegen, erleben wir auch jetzt schon. Wenn im militärischen Konfliktfall Truppen durch Deutschland geführt werden, stellt der Gegner ratzfatz fest, welche Routen sie nehmen können, und schon brennt da ein Tunnel oder fliegt eine Brücke in die Luft. IT-Dienstleister versorgen sehr viele Einrichtungen - Ämter, Kliniken, Flughäfen - und sind selten gut geschützt. Das klingt marginal, aber solche Angriffe, zeitgleich überall in Deutschland - auf die Energieversorgung, auf Krankenhäuser, die Logistik, das Finanzsystem -, die werden wir im Spannungsfall auf jeden Fall haben. Denn für Russland ist es viel einfacher, bei uns im Hinterland die Truppenversorgung zu stören, als an der Front einen Erfolg zu erringen.

Wir müssen also sehr viel resilienter werden?

Ja, und da reicht es nicht zu sagen, ich hab fünf Dosen Ravioli im Regal und die BBK-Broschüre "Vorsorgen für Krisen und Katastrophen".

Sondern?

Die finnische Regierung zum Beispiel bietet eine Art Verteidigungskurs an für Führungskräfte in Unternehmen, Politik und Verwaltung. Dreieinhalb Wochen lang werden die Leute sicherheitspolitisch geschult. Danach können sie als Multiplikatoren fungieren. In Firmen kann man Krisenübungen durchführen, einfach mal einen Stromausfall durchspielen - nicht nur die Brandschutzübung, wo es einmal klingelt und dann gehen alle auf die Straße. Schulen können sich einsetzen, Kulturorte, Sportvereine. Das klingt sehr allgemein, aber wir brauchen das wirklich in Formaten, die komplett in die Breite gehen. Ein bundesweiter Informationstag mit Übungen, für die man vom Arbeitgeber freibekommt. Eine Zivilschutz-App wie die estnische, mit vielen Funktionen und Infos: Tipps für den Umgang mit Stromausfall, Notfallnummern, Ortskarten und Rezepten.

Mit Ferdinand Gehringer sprach Frauke Niemeyer

Die informative BBK-Broschüre "Vorsorgen für Krisen und Katastrophen" kann hier heruntergeladen oder als Heft bestellt werden.

Quelle: ntv.de

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