Ein Jahr nach Oslo und Utøya Wie Breivik Norwegen veränderte
22.07.2012, 08:19 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Am 22. Juli 2011 löscht Anders Behring Breivik das Leben von 77 Menschen aus. Brutal richtet er seine Opfer hin, lässt sie unter den Trümmern der Regierungsgebäude in Oslo ersticken. An jenem Sommertag verlieren viele Familien ihre Kinder, Eheleute ihren Partner, Eltern ihren Lebensmut. Doch noch etwas geht verloren: Norwegens Unschuld.

Anders Behring Breivik kurz nachdem er eine Bombe im Osloer Regierungsviertel hochgehen ließ.
(Foto: picture alliance / dpa)
Es ist der 22. Juli 2011. Das Osloer Regierungsviertel liegt ruhig und wie ausgestorben da. Die meisten Angestellten haben ihre Büros bereits verlassen, der politische Betrieb befindet sich in der Sommerpause. Norwegens Hauptstadt streckt sich an diesem sommerlichen Freitag dem Wochenende entgegen. Da steigt ein in eine dunkle Polizeiuniform gekleideter junger Mann aus seinem Auto aus. Er setzt seinen Kampfhelm auf, stellt die Autobombe scharf und läuft in seinen Militärstiefeln los. Kurz drauf, um 15.22 Uhr, erschüttert ein ohrenbetäubender Knall das Zentrum der norwegischen Hauptstadt.
Nach den Anschlägen von 11. September 2001 in New York, als Terroristen Flugzeuge ins World Trade Center lenkten, prägten viele Beobachter und Medien eine gängige Plattitüde: Nichts sei mehr so, wie es einmal war, verkündeten Politiker, TV-Ansager und die bei solchen Gelegenheiten gerne befragten Experten fortan. Sie sagten es so oft, bis diesen Satz keiner mehr hören mochte. Durch die stete Wiederholung hat er schlicht seine Aussagekraft verloren. Und doch stimmte er.
So wie der 11. September 2001 die USA verändert hat, so haben die Attentate des Rechtsterroristen Anders Behring Breivik Norwegen verändert. Er begeht Taten, die das menschliche Vorstellungsvermögen überfordern. Nachdem er mit seiner Autobombe acht Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt hat, setzt er einen noch viel niederträchtigeren Plan in die Tat um: Er fährt zur nahegelegenen Fjordinsel Utøya. Das kleine Naturparadies ist im Besitz der Arbeidernes Ungdomsfylking, der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Jugend. 560 Jugendliche verbringen hier im alljährlichen Ferienlager ein paar unbeschwerte Sommertage.
Norweger stehen zusammen
Was Breivik dort anrichtet, gehört zum Grausamsten, das Menschen einander antun können. Eine knappe Stunde lang läuft der 32-Jährige über die Insel, schießt im Sekundentakt auf alles, was sich bewegt. Getrieben vom Hass auf den Islam, auf die multikulturelle Gesellschaft, verblendet von der empfundenen Gefahr, die von einer angeblichen marxistischen Bewegung in Norwegen ausgeht, tötet Breivik kaltblütig 69 wehrlose Menschen - überwiegend minderjährige Jugendliche. Seine Opfer erschießt Breivik nicht. Er richtet sie hin. Überwiegend mit gezielten Kopfschüssen.
Ralf Sedlmayer ist Anwalt in Oslo. Der Hamburger kam vor Jahren hierher, hat sich in eine Norwegerin verliebt und ist geblieben. Er ist Chef der Deutsch-Norwegischen Gesellschaft, einer Art Völkerverständigungsverein für Exil-Deutsche. An jenem Juli-Freitag ist er gerade in Hamburg und besucht mit einer seiner Töchter die Familie. Da erreicht ihn plötzlich eine SMS seiner Frau: "Sie haben das Regierungsviertel bombardiert." Erst einige bange Minuten und Anrufe später ist klar: Dem in Norwegen zurückgebliebene Teil seiner Familie geht es gut.
Dennoch sitzt bei Sedlmayer der Schock noch immer tief. Wenn er von den Taten erzählt, hört man seine Erschütterung und sein Mitgefühl heraus. Viele Nationen würde ein solches Ereignis umwerfen. Doch die Norweger bleiben stehen. Der Platz vor der Osloer Domkirche wird zum zentralen Ort des Gedenkens. Ein Blumenmeer übersät das Kopfsteinpflaster. "Auf die Schockstarre folgte ein enges Zusammenrücken der Norweger. Das war beeindruckend. Wirklich beeindruckend", sagt Sedlmayer heute, ein Jahr später.
Wer soll so etwas verarbeiten können?
Es sind die Tage, in denen auch Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg mit Worten überzeugt, die von Größe zeugen. "Ihr werdet unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören. Niemand kann Norwegen zum Schweigen schießen."Und: "Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit." Die Menschen, die ihm auf dem Osloer Domplatz zuhören, stimmen ihm zu. Norwegen, das von den Schüssen des Rechtsterroristen so schwer getroffen wurde, das eine solche Tragödie - da sind sich alle einig - seit dem Angriff von Nazi-Deutschland 1940 nicht mehr erlebt hat, zeigt Haltung.
Doch was ist davon heute noch übrig? Wie ist es um diesen Zusammenhalt der Menschen in Norwegen bestellt? Wie tief sitzen die Ereignisse noch? Für all jene, die ihre Kinder auf Utøya verloren haben, die unter den Toten Verwandte, Bekannte, Freunde haben, ist das Ereignis noch immer präsent. Und wenn sich die Taten Breiviks am 22. Juli jähren, werden sie wieder auf den Domplatz strömen, werden wieder rote Rosen - das Symbol der Arbeiterpartei - niederlegen. Dabei wollen viele heute, ein Jahr später, eigentlich am liebsten vergessen. Zu tief sitzen die Eindrücke, zu unverdaulich ist das, was geschehen ist.
Diesen Eindruck hat auch Godrun Gaarder. Gaarder ist geborene Dresdnerin, lebt aber seit Jahren in Oslo. Sie berät norwegische Diplomaten, die ihren Dienst im Ausland antreten wollen, arbeitet hier und da für das deutsche Fernsehen und macht Stadtführungen mit deutschen Touristen. Sie verfolgt, wie alle in Norwegen, wie Anders Breivik der Prozess gemacht wird. Der Extremist, den die Polizei auf Utøya schließlich stellte, hat seine Taten längst zugegeben. Sie wären angesichts der Bilder, die allgegenwärtig waren, auch reichlich schwer abzustreiten gewesen. Er bereut nichts, würde es, so sagt er es in seinem Schlusswort, jederzeit wieder tun.
Im Gerichtssaal bleibt es ruhig
Nach außen ist die Haltung der Norweger klar: Egal, wie schrecklich dieser Mensch ist, wie menschenverachtend seine Taten - er bleibt ein Mensch und als solcher muss ihm ein rechtsstaatlich einwandfreier Prozess gemacht werden. Doch Gaarder hört hinter vorgehaltener Hand oft ganz andere Töne: "Dann sagen die Menschen: 'Warum machen wir hier so einen Zirkus um Breivik. Am besten wäre gewesen, wenn man gleich kurzen Prozess mit ihm gemacht hätte.'"

Die gereckte Faust in juristisch unangreifbar, weil sie keiner verbotenen Bewegung zuzuordnen ist.
(Foto: dapd)
Und Breivik provoziert solche Forderungen. Im Gerichtssaal begegnet er den Richtern, seinen Anklägern und den Angehörigen der Opfer mit einem breiten Grinsen. Wenn es um seine Taten geht, lächelt er stolz. Betritt er den Raum, reckt er die Faust nach oben zu einem selbst erfundenen Gruß seiner angeblichen Bewegung. Erhält er das Wort, schwingt er schwer verständliche Reden, die seinem 1500-seitigen Pamphlet entstammen, das er kurz bevor er zum Töten loszog ins Internet stellte.
Umso bemerkenswerter ist es, dass Norwegens Justiz die Contenance bewahrt. Haarklein seziert vor allem Anklägerin Inga Bejer Engh Breiviks Aussagen. Von Provokationen unbeeindruckt führt die Jury unter Leitung von Richterin Wenche Elizabeth Arntzen den Prozess. Im Publikum kommt es kaum zu Unruhen. Der Versuch, einen Schuh in Richtung Breivik zu werfen, bleibt eine Ausnahme. Jurist Sedlmayer urteilt: "Man hat das sehr souverän hier gemacht, große Anerkennung für Norwegen!"
Norwegen stehen einige Gesetzesänderungen bevor
Mit dem Urteil am 24. August, mit dem der Prozess zu Ende gehen wird, wird die juristische Aufarbeitung abgeschlossen. Die politische beginnt dagegen gerade erst. "Mehr Offenheit, mehr Demokratie, mehr Menschlichkeit", hatte Stoltenberg damals versprochen. Doch es gibt Anzeichen, dass die Regierung ein wenig davon abrücken könnte. Vor wenigen Tagen stellte Justizministerin Grete Faremo einen Gesetzentwurf vor, mit dem Terror künftig besser vorgebeugt werden soll. Schon das Planen eines Attentats könnte dann verboten sein - bislang im liberalen Norwegen straffrei. Ohne Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger wird eine solche Verschärfung der Gesetze kaum zu machen sein. Wie sollen Menschen sonst dabei ertappt werden, einen Anschlag vorzubereiten?
Der Ausgang dieser Initiative ist ungewiss. Zwar hat Stoltenberg mit den Parlamentswahlen ein halbes Jahr nach Breivik erneut den Auftrag zum Regieren bekommen. Doch ob das friedliebende und offene Norwegen Einschnitte in die Freiheitsrechte ohne Murren mitmacht, ist zumindest fraglich.
Und dann gibt es neben dem Urteil gegen Breivik noch ein weiteres entscheidendes Datum für Norwegen: der 13. August. Dann nämlich will die unabhängige "22.-Juli-Kommission" ihre Ergebnisse präsentieren. Sie soll "die Wahrheit" über den Polizeieinsatz ans Licht bringen. Den Einsatzkräften wird vorgeworfen, nicht schnell genug auf Utøya gewesen zu sein - immerhin konnte Breivik fast eine Stunde lang mordend über die Insel streifen. Dass sich aus den Erkenntnissen der Kommission weitere Gesetzesverschärfungen ergeben, ist wahrscheinlich.
Norwegen wird damit nach langer Verzögerung in Europas Mitte ankommen. In vielen Ländern, wie auch in Deutschland, hat die Furcht vor islamistischem Terror die Gesetzgeber schon zu vermeintlich mehr Sicherheit durch immer neue Anti-Terror-Gesetze getrieben. Norwegen war bis Mitte vergangenen Jahres davon ausgenommen. "Die Leute hier denken oft, sie lebten auf einer Insel der Seligen. Der Terror ist weit weg, er betrifft andere", sagt Gaarder. Diese Einstellung hat sich durch die Breivik-Attentate geändert. Der 22. Juli 2011 ist zu Norwegens 9/11 geworden.
Quelle: ntv.de