Krankheit, Politik und Krieg Wie Michael Roth in den "Kühlschrank" fiel und wieder herausfand


Michael Roth ist nach 27 Jahren im Bundestag "ernüchtert, aber nicht verbittert", wie er schreibt.
(Foto: picture alliance / Thomas Koehler/photothek.de)
Sein Einsatz für die Ukraine machte den SPD-Außenpolitiker Roth bekannt - und zum Paria in der eigenen Partei. Dort kam sich der psychisch erkrankte Hesse bald wie im "Kühlschrank" vor. Roth hat den Bundestag verlassen und ein lesenswertes Buch über seine drei Jahrzehnte dort vorgelegt.
Michael Roth hat Schluss gemacht und fängt mit seinen 55 Jahren ein neues Leben an. Das will etwas heißen nach 27 Jahren als Bundestagsabgeordneter, in denen er ausgerechnet zum Schluss unerwartete Bekanntheit erlangte. Doch selbst, wenn Roth noch Lust gehabt hätte, es ging nicht anders. Roths Psyche ertrug die spezielle Lebensform Berufspolitik nicht mehr. Seine SPD wiederum ertrug den für sie anstrengend gewordenen Roth immer schlechter. Dass der Hesse mit seinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur dennoch keinen Abgang voller Bitterkeit hingelegt hat, davon legt sein nun erschienenes Buch "Zonen der Angst" so eindrucksvoll wie unterhaltsam Zeugnis ab.
Roth hat 2022 seine psychische Erkrankung öffentlich gemacht und schließlich inmitten der Legislaturperiode mehrere Monate pausieren müssen. Den meisten Menschen war der sieben Mal in Folge direkt in den Bundestag gewählte Hesse bis zur russischen Großinvasion der Ukraine eher unbekannt. Unter drei sozialdemokratischen Außenministern hatte Roth da schon als parlamentarischer Staatssekretär gedient und sich im offenen Kandidatenrennen 2019 gar an der Übernahme des SPD-Parteivorsitzes versucht.
Doch als er im Frühjahr 2022 als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag zu einem der lautesten Fürsprecher einer robusten militärischen Unterstützung der Ukraine wurde, war Roth plötzlich Dauergast in Talkshows und Radio. Auch ntv.de gab Roth regelmäßig Interviews. Roth formulierte unmissverständlich, urteilte zuweilen scharf und war vor allem der prominenteste Sozialdemokrat, der sich öffentlich gegen eine als zögerlich empfundene Ukrainepolitik des ebenfalls sozialdemokratischen Bundeskanzlers Olaf Scholz stellte.
Plötzlich gefragt - als Scholz-Antagonist
"Die harschen Reaktionen aus meiner Partei und der Spin der Medien, die mich zunehmend in die Rolle eines Gegenspielers zum Bundeskanzler hineindrängten, machten mich fertig", schreibt Roth. Und an anderer Stelle: "Es quälte mich, in meiner Fraktion geschnitten und mit Nichtachtung gestraft zu werden. Ich war sensibel genug, um zu spüren, dass bei meinem Eintritt in den Otto-Wels-Saal, wo die SPD-Fraktion tagte, die gefühlte Temperatur schlagartig sank. Ich fühlte mich wie in einem Kühlschrank."
Zugleich war Roths Dauerpräsenz in den Medien nicht allein seinen politischen Überzeugungen geschuldet, die durch einen Besuch in der Ukraine im Frühjahr 2022 bestärkt worden waren. "Für das Feld der Berufspolitik hatte ich eine entscheidende Achillesferse: Mein Selbstwertgefühl war davon abhängig, wie mich andere sahen. Ich hing an ihrem Beifall und ihrer Sympathie, hatte wenig intrinsisches Selbstbewusstsein. Am Ende war ich eben das verunsicherte Arbeiterkind aus dem Dorf und der schwierigen Familie am Abgrund geblieben."
So war Roth ausgerechnet in jenen Jahren, in denen die Erkrankung schon ausgebrochen war, doppelt empfänglich: für die plötzliche Kälte, die ihm aus weiten Teilen der eigenen Partei plötzlich entgegenschlug, wie auch für die mediale Aufmerksamkeit und den Zuspruch all jener, die es mit der Ukraine hielten. Wer Roth oft persönlich erlebt hat auf der Bühne des Berliner Politikbetriebs, nicht aber in seiner nordosthessischen Heimatregion, konnte leicht hereinfallen auf Roths Fassade aus teuer aussehenden Anzügen und dem auch sonst betont selbstbewussten Auftreten.
Ein unwahrscheinlicher Aufstieg
Roths Vater war ein im Dorf verrufener, alkoholkranker Mann. Roth selbst wuchs als schwuler Junge in den 80er und 90er Jahren in einer konservativ-ländlich geprägten Bergbauregion auf. Sein Aufstieg mit, für und dank der SPD katapultierte einen jungen, intelligenten Mann aus teils prekären Verhältnissen in unerreichbar geglaubte Sphären. Manches an den durchaus schmerzhaften Schilderungen von Roths Aufwachsen erinnert an Didier Eribons "Rückkehr nach Reims": ein Aufsteiger, der seine wahre Herkunft aus Scham zu verschleiern versucht, indem er in jeder Hinsicht extra dick aufträgt. Ein Reflex, der im Berufsfeld Politik befördert wird, weil man zugleich überzeugend und möglichst unangreifbar sein muss. Bei Roth wirkte das daraus resultierende Auftreten nicht immer sympathisch.
Das Spiel aus Schein und Sein kann belastend sein. Umso mehr musste Roth fürchten, dass seine eingeräumte psychische Erkrankung von politischen Konkurrenten gegen ihn verwendet werden könnte. Die Resonanz aber war weit überwiegend positiv. Trotz der Prominenz, die das Thema psychische Gesundheit in den vergangenen Jahren gewonnen hat, spüren noch immer viele Betroffene das Stigma - und Erleichterung über jeden weiteren Schritt der Enttabuisierung.
Roth betont, dass die tieferen Ursachen seines psychischen Leidens nicht allein in der Politik zu suchen seien. Auch darum reflektiert der Autor, auf welche verschiedenen Arten und Weisen er sich selbst und seinem Umfeld nicht gutgetan hat. Trotz der erlittenen Enttäuschungen und Verletzungen durch die eigene Partei kommt kein Sozialdemokrat im Buch so schlecht weg wie Roth selbst. Das ist mutig, teils erstaunlich intim und wirkt dennoch nicht narzisstisch. Das Buch ist an jenen Stellen am stärksten, an denen Roth zu erkunden versucht, woran es systemisch krankt im Land, vor allem aber in diesem seltsamen Berufsfeld Politik - weil ihm das Überleben der freiheitlich-pluralistischen Demokratie Herzenssache ist.
Jetzt erst einmal Lesereise
So endet das Buch optimistisch mit der Schilderung von Roths Erlebnissen in Georgien, wo sich viele Menschen unter immer größerem Druck gegen die Abschaffung ihrer Demokratie wehren: "Wir alle durchschreiten verschiedene Zonen der Angst", schreibt Roth. "Sich der Angst zu stellen, habe ich von meinen georgischen Freunden gelernt." Im Schatten des russischen Kriegs gegen die Ukraine entgeht der deutschen Aufmerksamkeit aber weitgehend, dass sich die Verhältnisse in Georgien auch über die vergangenen Monate hinweg weiter verschlechtert haben.
Roth wird dem Land nicht mehr als Politiker helfen können. Eine Rückkehr sei ausgeschlossen, schreibt Roth und geht nun erstmal auf Leserreise. Deren Besucher werden zu hören bekommen, wie Roth so manche Akteure in der SPD wahrgenommen hat, welch kindische Sanktionsinstrumente ein Fraktionschef gegen in Ungnade gefallene Abgeordnete ins Feld führen kann und wie der vermeintliche Gegenspieler Roth wirklich über Olaf Scholz denkt. Wen das und noch mehr interessiert, kann sich aber auch einfach das bei C.H.Beck für 26 Euro erschienene Buch kaufen.
Quelle: ntv.de