Eribon macht wütend "Eine Arbeiterin" drückt dort, wo es wehtut


Hübsch, klug und wahnsinnig kritisch: Soziologe Didier Eribon.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Der Soziologe Didier Eribon ist ein herausragender Autor. In seinem autobiografischen Roman "Rückkehr nach Reims" gibt er tiefe Einblicke in das Leben der französischen Klassengesellschaft. Sein neues Werk widmet sich nun seiner Mutter. Ein trauriges wie auch aufrüttelndes Buch.
Sieben Wochen lebt seine Mutter im Pflegeheim, dann ist sie tot. Nur zwei Tage nahm sich Sohn Didier Eribon für einen Besuch. Für den Soziologen eine beschämende Bilanz. Das wirft für ihn Fragen auf. Fragen zur Familie, zum Leben seiner Mutter, einer Frau, deren Leben geprägt war von Armut, von zermürbenden Jobs, von der erdrückenden Eifersucht ihres Mannes; Fragen zu sich selbst, seiner Rolle als Sohn; Fragen zum Alter, dem Lebensabend in Altenpflegeheimen; und auch Fragen zum Tod. In "Eine Arbeiterin: Leben, Alter und Sterben" geht Eribon auf Antwortensuche - und liefert ein Werk von enormer emotionaler Wucht.
Das Buch setzt am Ende ein. Eribons Mutter ist 85 Jahre alt, gebrechlich, verwitwet, zunehmend verwirrt, kurz: kaum noch alltagsfähig. Kippt sie um, rückt die Feuerwehr an, wenn sie denn jemand ruft. Sie kann nicht mehr ohne Vollzeitbetreuung leben, weshalb ihre Söhne einen Platz in einem Pflegeheim suchen. Ein langatmiger Prozess. Tag für Tag hoffen sie, dass etwas frei wird. Das ist lapidar ausgedrückt, letztlich geht ein freigewordener Platz mit einem Todesfall einher. Einer von vielen introspektiven Schlüssen, die Eribon zieht.
Wutmacher-Konzentrat
Solche gibt es auch, als er das überlastete Pflegepersonal, den überlasteten Verwaltungsapparat, die gehetzte Stimmung auf den Gängen und das Siechtum in den Krankenzimmern beschreibt. Personal und Pflegebedürftige, sie alle bräuchten mehr Zeit. In einem kaputtgesparten Sektor eine stets knappe Ressource. Eribon beschreibt die systemischen Probleme, empört sich, reißt so die Leser mit.
Viel Neues erzählt er dabei nicht, doch er kreiert auf wenigen Seiten ein Konzentrat, das sauer aufstoßen lässt. Immer wieder folgen Wechsel zwischen biografischer Nacherzählung und mit Literaturnachweisen übersäten Analysen, von Brecht über Earnaux zu Foucault. Eingangs funktioniert die Mischung auch wunderbar. Regelmäßig gibt es neue Anstöße, regelmäßig folgen auf Heul- erhellende Aha-Momente.
Für ein besonderes Erweckungserlebnis sorgt etwa eine Passage, in der es um die zunehmende Vereinsamung im Pflegeheim geht. Seine Mutter musste lernen, "mit Menschen umzugehen, deren Gesellschaft sie sich nicht ausgesucht hatte, musste sich mit Menschen vertraut machen, zu denen sie keinen Kontakt wollte, nicht einmal bei den Mahlzeiten", schreibt Eribon. Dieser Zwang führe zur Abschottung. Eine These, die er mithilfe des Soziologen Norbert Elias stützt: "Pflegeheime sind Einöden der Einsamkeit."
Runden im Kreisverkehr
Es ist ein starker Anfang, doch ungefähr ab der zweiten Hälfte zeigen sich einige Schwächen, quasi sobald er das Pflegeheim thematisch verlässt. Offenbar fühlt sich Eribon dann gezwungen, aller Welt zu beweisen, was für ein großartiger Stilist er ist. Und so ufert er aus, schreibt sich in einen Kreisverkehr, dreht Satz für Satz, Runde um Runde, bis er endlich rauskommt - und damit zu einer (vor allem für die Leserin und den Leser) erlösenden Erkenntnis. Nach dem Tod seiner Mutter reflektiert er etwa seine Rolle als Sohn, die Frage, ob das Band nun gekappt sei oder nicht, er weiterhin Sohn sei oder nicht, er es jemals war oder nicht. Es braucht viele, viele schwerfällige Sätze, bis er merkt: Er war Sohn, jetzt nicht mehr.
Noch absurder wird es bei einem Exkurs zur Kirche: "Dabei spielt die Kirche als Gebäude und Institution eine zentrale Rolle, die den aus der gewöhnlichen Zeitlichkeit herausragenden Ereignissen eine gewisse Feierlichkeit verleiht." Ziemlich viel Lametta für die Feststellung, dass in Kirchen besondere Feiern stattfinden.
Oder wenn er die Sogwirkung der Familie beschreibt, erklärt, wie er Abstand bekommen will, aber durch Anlässe, wie dem Versterben seiner Mutter, wieder zurückgezogen wird. Wahnsinnig spannend, nur so langatmig erzählt, dass man auf halber Strecke vergisst, wieso er das überhaupt anspricht. Gehässig ausgedrückt: Er macht intellektuell wuschig, doch zögert gelegentlich den Höhepunkt so weit hinaus, bis die Lust vergeht.
Neue Normen, neuer Autor?
In 276 Seiten verstolpert sich Eribon leider des Öfteren in langatmiger Redundanz, ist dabei gelegentlich selbstgefällig. Das war nicht immer so. In "Rückkehr nach Reims", seinem ersten autobiografischen Roman, beschreibt er seinen Weg vom Arbeiterkind zum Bestseller-Intellektuellen aus soziologischer Distanz - viele Anführungszeichen, Kritik am Pariser Elitentum, Kritik an der Aufstiegsideologie. Nun spricht aus ihm eher der Stolz eines "Bildungswunders", das seine schöpferische Energie aus der Erkundung jenes Umfelds zieht, dem er entwuchs. Vielleicht sorgte sein neues Umfeld für neue Normen, denen er zu entsprechen versucht. Denn, und das ist eine gewagte Vermutung: Reiche Bildungsbürger lieben Aufstiegsgeschichten.
"Eine Arbeiterin" ist deshalb aber keine schlechte Abhandlung, nur eben eine mit Längen. Stark ist sie dann, wenn das Leben der Mutter mit all den traurigen Facetten, den Rückschlägen, den Ungerechtigkeiten Thema ist; wenn es nicht nur um seine Mutter, sondern um das Leben von Frauen in den patriarchalen Strukturen Mitte des 20. Jahrhunderts geht; wenn sie sich um den Gesundheitssektor unter neoliberalem Spardiktat dreht; und vor allem dann, wenn Eribon wütend wird. Vielleicht wäre eine kürzere Fassung, eine Trauerschrift, Novelle oder ein Essay, besser gewesen. Eben ein Format, das ihn gezwungen hätte, schneller zum Punkt zu kommen.
Quelle: ntv.de