Wieduwilts Woche Wir sind Westin, da gibt es keine Ausreden
08.10.2021, 13:16 Uhr
Man kann Verantwortung übernehmen, anstatt sie abzuladen: das Westin in Leipzig.
(Foto: dpa)
Juden können sich in Deutschland nicht folgenlos zu erkennen geben. Das ist nicht das Problem eines Mitarbeiters, eines Hotels oder eines Bundeslands - wir alle sind dafür verantwortlich.
Im Westin, einem Hotel in Leipzig, durfte der Musiker Gil Ofarim nicht einchecken, weil er einen Davidstern um den Hals trug - das klagt er jedenfalls an, Ermittlungen laufen, die Empörung ist groß. Das Hotel kündigte eigene Aufklärungsarbeiten durch eine beauftragte Anwaltskanzlei an.
Es ist durchaus richtig, nach persönlicher Verantwortung des verdächtigen Hotelmitarbeiters "Herrn W." zu fragen. Es ist legitim, nach Managementfehlern beim Hotel zu suchen. Auch Debatten über "den Osten" und anhaltende Probleme mit Rechtsextremismus und Judenfeindlichkeit sollte man nicht aussparen. Wer sich aus bundesländischer Eitelkeit vom Problem wegdreht, entzieht sich der Verantwortung.
Doch der Eindruck entsteht, dass das Problem Antisemitismus mal wieder abgeladen werden soll - beim Mitarbeiter, beim Hotel, beim Osten. Das wäre ein Fehler, auch wenn es eine gewisse Tradition hat.
War es wenigstens ein Nazi?
Wir verwalten das Böse nämlich gern weg. Wenn es zu rassistischen Hetzjagden im Osten kommt, sind die Westdeutschen erleichtert: Weiß man ja, was da drüben so los ist! Wenn Hassrede im Netz auftaucht, sollen sich die Netzwerke drum kümmern, sie sind schließlich schuld - nicht etwa die Nutzer. Wenn jemand einen Juden - wie gerade in Hamburg - auf offener Straße zusammenschlägt, fragen wir laut oder innerlich, ob es ein Araber war, ein Muslim oder wenigstens ein Nazi, jedenfalls bitte jemand mit einer Eigenschaft, die uns vom Vorfall separiert.
Wir Deutsche haben das über 70 Jahre lang geübt. Wenn wir von "nationalsozialistischer Gewaltherrschaft" sprechen, klingt es ein wenig, als hätten Außerirdische die NSDAP vom Himmel abgeworfen und so das Land "in eine dunkle Zeit" gestürzt - Opa war kein Nazi, natürlich nicht. Das Hirn findet stets einen Weg, um für den einzelnen die größtmögliche Gemütlichkeit zu wahren.
Und ja, schlechte Nachrichten: Sich einzumischen ist tatsächlich ungemütlich. Denn das Thema Antisemitismus und Juden in Deutschland ist kompliziert. Man blamiert sich schnell. Das Hotel, Teil der internationalen Marriott-Kette, zeigte etwa panisch ein altes Banner mit der Israelflagge her - und grenzte den Deutschen Gil Ofarim gleich noch einmal aus, nämlich als Ausländer. Es sprach vom "integrieren", als stünden Juden außerhalb der deutschen Gesellschaft. Selbst manche Journalisten tapsten ins Fettnäpfchen, nannten den Davidstern "Judenstern" - und nutzten damit eine Nazi-Vokabel. Ist es hilfreich, sich darüber zu echauffieren?
Wie unübersichtlich auch der Holocaust selbst nach über 70 Jahren ist, zeigte sich, einer Laune der Geschichte folgend, ausgerechnet in dieser Woche: Der Bundespräsident besuchte dieser Tage Babyn Jar, einen Ort in der Ukraine und Schauplatz unfassbarer Gräuel, und Steinmeier fragte zu Recht: "Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute vom Holocaust durch Kugeln?"
Aber es ist doch unbewiesen!
Im Fall Westin steht freilich noch eine sehr unangenehme Frage im Raum: Stimmt es denn, was Ofarim behauptet? Wer einmal ein Strafverfahren erlebt hat, weiß, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Kritische Nachfragen empfinden tatsächliche Opfer als infam und auch Ofarim hat sich wegen Zweifeln an seiner Darstellung empört.
Die brutale Realität: Manche Menschen lügen, auch durch emotionale Opfergeschichten. Als in Straßburg ein Mädchen angab, von mehreren Migranten belästigt worden zu sein, war die Empörung groß - Politiker reisten aus Paris an, um sich im Elsass vor die Presse zu stellen. Monate später mehren sich erhebliche Zweifel an ihrer Darstellung, Zeugen gab es nicht.
Wie verhält man sich also richtig? Die Lösung könnte sein, sich nicht auf bestimmte Täter zu fokussieren. Man kann sich gegen Verhaltensweisen stellen, ohne Personen und Institutionen - "Herrn W.", das Westin, den Osten - vorab zu verurteilen. Verantwortung übernehmen, anstatt sie abzuladen.
Verantwortung bedeutet nicht Schuld
Gegen Antisemitismus zu protestieren ist, wie die traurige Situation von Juden in Deutschland wieder und wieder zeigt, eigentlich immer eine gute Idee. Im Fall Westin versammelten sich 600 Menschen, ein gutes Zeichen. Auch im Straßburger Fall war die Empörung nicht vergebens - selbst wenn der Anlass erfunden sein sollte. Eines ist sicher: Schweigen aus vorsichtiger Bequemlichkeit ist keine Alternative.
Verantwortung übernehmen bedeutet nicht, sich einer Schuld zu bekennen. Es gilt die vom früheren Bundespräsidenten Roman Herzog getroffene Unterscheidung: Wir Nachkriegsgeborene können keine Schuld am Holocaust haben - aber für Antisemitismus verantwortlich sind wir schon. Ein bisschen profaner ausgedrückt: Antisemitismus ist ein bisschen wie Atomabfall. Wir müssen uns drum kümmern, ihn managen, auch wenn wir ihn nicht produziert haben. Das klingt etwas edler, wenn man es "besondere Verantwortung für jüdisches Leben" nennt, ist aber dasselbe.
Es geht nicht darum, gekrümmt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte zu schleichen. Im Gegenteil: Engagement gegen Judenfeindlichkeit ist eine Aufgabe, die man am besten mit geradem Kreuz erledigt.
Wir sind Westin, keine Ausreden
Aber was heißt Verantwortung konkret? Eben an der Sache - nicht einem bestimmten Täter - orientierte entschiedene Gegenrede, auch in Alltagssituationen. Wenn jemand wegen eines Davidsterns nicht einchecken kann, muss jeder protestieren, der es mitbekommt. Wenn manche Querdenker von "Soros" und einer jüdischen Weltverschwörung schwadronieren, muss jeder protestieren, der es mitbekommt. Wenn der Facebook-Gründer und Jude Mark Zuckerberg in einem Gag entmenschlicht wird, muss jeder protestieren, der es mitbekommt. Wenn ein israelischer Politiker als Krake gezeichnet wird, muss jeder Redakteur protestieren, der es mitbekommt.
Wir sind und bleiben alle verantwortlich. Wir sind Westin, wir sind Leipzig, wir sind Sachsen, wir sind Deutschland. Da gibt es keine Ausreden, kein Abschieben der Verantwortung. Auch wenn es unbequem ist.
Quelle: ntv.de