Kiew bereitet Gegenoffensive vor Cherson ist nicht der große Stoß


Die Ukraine gibt sich alle Mühe, ihre Pläne für die angekündigte Frühjahrsoffensive geheim zu halten.
(Foto: REUTERS)
Mit der Überquerung des Flusses Dnipro gelingt den Ukrainern bei Cherson ein Vorstoß auf russisch besetztem Gebiet. Was die Ukrainer dort vorhaben, ist aber unklar - denn für einen Gegenangriff im großen Stil eignet sich die Gegend eher nicht. Trotzdem deutet vieles auf intensive Vorbereitungen hin.
Schon seit Monaten wird über eine ukrainische Frühjahrsoffensive spekuliert, offiziell begonnen hat sie noch nicht. So viel ist allerdings klar: Die Vorbereitungen laufen bereits auf Hochtouren. Darauf deuten auch die jüngsten Vorstöße bei Cherson hin. Gleichzeitig wirft die Überquerung des Flusses Dnipro Fragen auf: Ist das schon der Gegenangriff? Oder ist es ein Ablenkungsmanöver?
Nach einem Bericht der "New York Times" soll die Ukraine Ende April zwölf Brigaden à 4000 Mann, also rund 48.000 Soldaten, für eine Gegenoffensive zusammengezogen haben. Das geht der Zeitung zufolge aus den durchgesickerten Pentagon-Dokumenten hervor. Dass sie aber ausgerechnet bei Cherson startet, ist trotz der Gefechte, die seit dem Wochenende auf russisch besetztem Gebiet stattfinden, eher unwahrscheinlich. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Panzer kommen nicht über den Fluss
Die Ukrainer haben bei Cherson ein zentrales Problem: Sie bekommen keine Panzer über den Fluss. Soldaten haben den Fluss mit kleinen Schnellbooten überquert, auf denen Munition und kleinere Waffen transportiert werden können. Für gepanzerte Fahrzeuge braucht es aber eine intakte Brücke. Die Antoniwka-Brücke, wo sich die ukrainischen Truppen konzentrieren, ist zu großen Teilen schwer beschädigt. Dass tonnenschwere Panzer darüber ans andere Ufer rollen können, ist ausgeschlossen.
"Bei der Antoniwka-Brücke fehlen etwa 30 bis 40 Meter, da müsste man eine Behelfsbrücke bauen", sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Das kann dauern, zumal sie dabei dem Risiko ausgesetzt wären, von den Russen angegriffen zu werden. Unklar ist auch, wie beschädigt die anderen Segmente der Brücke sind.

Der Brückenlegepanzer vom Typ Biber aus deutscher Produktion schafft kleinere Fluss- und Bachübergänge.
(Foto: picture alliance / Philipp Schulze/dpa)
Das gleiche Problem hatten die Russen bei ihrer Evakuierung aus Cherson über den Dnipro im vergangenen Herbst. "Sie haben Pontonbrücken danebengelegt, von denen einige auch noch da sind und vor sich hin rosten", so Gressel. Die Brücke wäre außerdem die einzige Versorgungslinie für Nachschub für die Ukrainer, was immer schlecht ist und sie zu einem attraktiven Angriffsziel der Russen macht. Das war auch der Grund, warum die Ukraine sie zerstörten: Sie wollten den Nachschub für die russischen Truppen in die Stadt Cherson unterbinden. Eine Strategie, die erfolgreich war.
Auch der Biber-Brückenlegepanzer, den die Ukraine aus deutschen Beständen bekommen hat, hilft der Ukraine hier nicht weiter. Der Fluss hat in der Region Cherson eine Breite von 700 bis 800 Metern. "Das ist für den Biber viel zu groß", sagt Gressel. Dieser hat eine Spannbreite von 22 Metern, kann also nur Gelände von maximal 20 Metern überbrücken.
Sumpfland verhindert Nachschub
Fest steht: Über den Fluss schaffen es die Panzer nicht. Wie aber sollen die ukrainischen Streitkräfte ohne Fahrzeuge vorwärtskommen? Erst mal gar nicht, denn auf der anderen Seite des Dnipros befindet sich Sumpfland. Dort kommt man selbst mit Panzern nicht weiter. Die Ukrainer können dort nur mit Infanterie etwas ausrichten, das schwere Geschütz und Artilleriesysteme bleiben aber am anderen Ufer. Sie müssen deshalb aber auch keine Angst vor Panzerangriffen der Russen haben, denn die kommen mit den tonnenschweren Geräten dort ebenfalls nicht voran.
Um weiter Richtung Krim vorzustoßen oder eine Gegenoffensive der Ukraine in diesem Bereich zu unterstützen, braucht es trotzdem schwere Geräte. "Sobald die Straßen wieder fester werden, liegen dahinter schwere russische Stellungen mit Kampfpanzern, aber eben nicht vorne am Fluss im Sumpf", sagt Gressel.
Das ist auch der Grund, warum die Ukrainer so leicht Stellungen auf der südlichen Dnipro-Seite aufbauen konnten. Kurz darauf haben russische Truppen die von den Ukrainern eingenommene Gebiete, unter anderem die Ortschaft Dachi, stark bombardiert. Die Gefechte dort drehen sich aber im Moment fast nur um Sumpfgelände und einzelne Sandbänke, so Gressel. Man komme dort nur mit Schlauchbooten oder zu Fuß weiter. "Das Problem ist, man muss Nachschub generieren. Dort können aber nicht einmal LKWs fahren, die Munition transportieren."
Ukrainer haben keinen Schutz
Eine weitere Herausforderung, die sich aus den fehlenden Panzern und der Sumpflandschaft ergibt, ist der fehlende Schutz der ukrainischen Infanterie-Truppen. Vor allem vor Luftangriffen können sich die Soldaten kaum schützen. Das russische Militär setzt laut Gressel Gleitbomben ein, die eine Reichweite von bis zu 70 Kilometern haben. "Die Ukrainer sind auf den Inseln relativ fixiert und können nicht groß ausweichen."
Auch nach unten ergeben sich kaum Fluchtmöglichkeiten, denn Schützengräben sind in sumpfigem Gebiet keine Alternative: Wenn man eine Weile gräbt, kommt irgendwann Wasser. Stattdessen gebe es viele flache Sandbänke. Für Gressel stellt sich deshalb die Frage, die lange die Ukrainer dort ausharren können.
Mit großer Sicherheit handelt es sich hier aber um Vorbereitungen auf die Frühjahrsoffensive. Die Möglichkeit eines Ablenkungsmanövers in Cherson sei in jedem Fall denkbar, sind sich Experten einig. Auch wenn ukrainische Truppen das Nachschubproblem über den Dnipro nicht lösen können, sei es möglich, dass die eroberten kleineren Ortschaften für den Vorstoß in Richtung Osten später wichtig werden, sagte Marcel Berni, Experte an der Militärakademie der ETH Zürich, dem SRF. Sie ermöglichen Basen auf der gegnerischen Seite und binden feindlichen Truppen.
"Maximaler Durchbruch von 30 Kilometern"
Dass es nicht bei kleineren Ortschaften bleiben soll, könnten auch die Behauptungen des russischen Militärbloggers Rybar stützen. Auf Telegram schreibt er, dass "bedeutende Kräfte" mit einer Gesamtstärke "von über 15.000 Ukrainern" und mindestens 20 Truppenbataillonen sich in Richtung Cherson bewegen. Gleichzeitig werde wohl der Transfer neuer Formationen in der Region Saporischschja fortgesetzt. Die aktuellen Manöver bei Cherson bewertet der Militärblogger deshalb als Versuch, die Aufmerksamkeit des russischen Kommandos von Saporischschja abzulenken.
Bislang kann über Details der Frühjahrsoffensive nur spekuliert werden. Naheliegend ist jedoch, dass die Vorstöße in Cherson zu den Vorbereitungen gehören. Erwartungen, dass dies der letzte und alles entscheidende Gegenangriff sein werde, dämpfen Experten jedoch bereits im Voraus. "Was ich mir vorstellen kann, ist ein Durchbruch maximal rund 30 Kilometer in die Tiefe", sagte der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk. "Am allerwichtigsten ist ja, dass dort, wo dieser erfolgt, die Flanken ausreichend gesichert sind."
Quelle: ntv.de