"Die Macht ist ablösbar" Ekaterina Duntsowa kandidiert gegen Putin
10.12.2023, 15:22 Uhr Artikel anhören
Am Freitag verkündete der russische Machthaber Wladimir Putin, dass er bei den Präsidentschaftswahlen im März noch einmal antreten wird. Putin herrscht in Russland seit fast einem Vierteljahrhundert. Die Wiederwahl, die faktisch nur von zeremonieller Bedeutung ist, wird ihm eine Amtszeit von sechs weiteren Jahren geben.
Dennoch gibt es Gegenkandidaten. Eine von ihnen ist Ekaterina Duntsowa: Juristin, Journalistin und Kommunalpolitikerin. Die 40-jährige Mutter von drei Kindern lebt in der Stadt Rschew, rund 200 Kilometer westlich von Moskau. Ihr zentrales politisches Ziel ist die Freilassung aller politischen Häftlinge. Den Krieg in der Ukraine will sie über Verhandlungen beenden. "In den letzten zehn Jahren hat sich unser Land in die falsche Richtung bewegt, der Kurs geht in Richtung Selbstzerstörung", heißt es auf ihrer Webseite. Im Interview sagt sie: "Ich wollte, dass die Menschen verstehen, dass die Macht ablösbar ist, dass so etwas im Prinzip möglich ist."
ntv: Sie sind Kommunalpolitikerin und wollen Präsidentin werden. Was hat Sie dazu bewogen?
Ekaterina Duntsowa: Das Vertrauen an die Macht wird gerade hier [in der Kommunalpolitik] geboren. Der Mensch kommt und will etwas bekommen, aber die Vollmachten auf der provinziellen Ebene sind sehr beschränkt. Der Mensch braucht etwas, bittet um Hilfe und bekommt als Antwort eine Absage - mit der Begründung, dass wir alles an das Zentrum abgegeben haben. Ich lebe genauso wie alle anderen Menschen hier. Ich weiß, welche Schwierigkeiten die Menschen hier haben. Die föderalen Politiker meinen, dass sie wissen, was der Mensch braucht. Aber sie sind weit entfernt von den einfachen Menschen. Sie wissen nicht, wie diese Menschen leben.
Sie stellen auch politische Forderungen.
Aber sicher. Wichtig sind die Rechte und Freiheiten der Menschen. Das Erste, was ich machen würde, ich würde alle politischen Häftlinge befreien. Diese Menschen haben ihre Meinung offen gesagt und müssen jetzt nur für ihre Worte in den Straflagern sitzen. Und es geht um enorm hohe Strafen. Unter diesen Menschen sind welche, die krank sind, manche todkrank. Und was ganz besonders schlimm ist: Unter diesen Häftlingen sind auch Mädchen. Ich kann es nicht begreifen, das ist sehr grausam. Wie kann man politische Häftlinge nur so behandeln? Dabei werden auch grausame, barbarische Methoden der Behandlung der Häftlinge angewandt.
Wie ist Ihre Haltung zum Ukraine-Krieg?
Ich bin keine Anhängerin der kollektiven Verantwortung. Niemand hat uns gefragt, als dieser Beschluss gefasst wurde. Die Menschen, die jetzt eingezogen wurden, von denen heißt es, dass sie ihre Pflicht erfüllen. Aber für die Familien ist es in den meisten Fällen eine Tragödie. Sie bleiben allein, die Frauen müssen die Familie ernähren. All das ist sehr kompliziert und die Müdigkeit ist durchaus spürbar. Wir sehen, dass die Frauen der Mobilisierten mit Plakaten auf die Straße gehen. Aber bei Weitem nicht alle sind bereit, darüber offen zu sprechen.
Was machen Sie im Moment beruflich?
Ich bin derzeit selbstständig, bin Journalistin, schreibe Artikel, bin in den sozialen Netzen aktiv. Gerade mache ich kaum etwas anderes, als Interviews zu geben. Das ist natürlich alles verbunden mit den Präsidentschaftswahlen und damit, dass ich kandidiere.
Wer unterstützt Sie?
Ich werde ganz besonders von jungen Menschen unterstützt. Sie veröffentlichen Bilder mit mir, denken sich neue Parolen aus für meine Wahlkampagne aus. Alles sehr kreativ und es gefällt mir. Und diesen jungen Menschen gefällt es auch. Sie haben Spaß daran. Wahrscheinlich haben sie auf diesen Moment auch lange gewartet. Ich weiß nicht, wie viele es sind genau, aber mit haben Zehntausende angeschrieben. Die meisten leben im Ausland, sind aber russische Staatsbürger. Sie fragen mich, wie sie mich unterstützen können. Wir sammeln Unterschriften [für die Zulassung zur Wahl].
Haben Sie überhaupt eine Chance?
Es geht nicht um die Chance. Das ist ein idealistischer Moment. Wir wollen an die Wahlen glauben, und wenn ich dabei nicht an mich selbst glaube, dann wird es auch nicht gelingen, die Wahlen zu gewinnen. Wenn du an dich selbst nicht glaubst, dann glaubst du nicht an die Wahlen, und wenn du an die Wahlen nicht glaubst, dann glaubst du auch nicht an dich selbst.
Was ist für Sie das Wichtigste in diesem Wahlkampf? Möchten Sie den Menschen Ihre Ansichten nahebringen?
Meine Ansichten sind klar, aber sie waren bis jetzt nicht zu hören. Wer hat in der letzten Zeit die Möglichkeit gehabt, seine Ansichten darzulegen? Ich kann mich nicht erinnern. Der Wahlkampf ermöglicht es, darüber zu sprechen. Die Menschen haben in den letzten anderthalb Jahren aufgehört, darüber zu sprechen. Wir kontrollieren zurzeit nicht nur das, was wir sagen, sondern auch das, was wir denken. Das ist furchtbar.
Was erhoffen Sie sich, wenn Sie als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen zugelassen werden?
Wenn wir mindestens erreichen, dass es zu einer zweiten Wahlrunde kommt [Anmerkung: die gibt es, wenn kein Kandidat 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht], dann ist es schon ein Erfolg. Natürlich hat der jetzige Präsident eine große Unterstützung im Volk. Das muss man verstehen. Die Amerikaner hatten sehr unangenehme Fragen an Trump, aber wir wussten, dass Trump früher oder später gehen wird. Wann Putin gehen wird, das weiß keiner. Ich wollte, dass die Menschen verstehen, dass die Macht ablösbar ist, dass so etwas im Prinzip möglich ist. Wenn es zu einer zweiten Wahlrunde kommt, wird das eine große moralische Unterstützung für diese Menschen sein.
Was ist aus dem Fernsehsender in Rschew geworden, bei dem Sie Chefredakteurin waren?
Der Fernsehsender, den wir hier gegründet hatten, war als Gegengewicht für die offiziellen Sender gedacht, die nur die offizielle Meinung gebracht haben. Wir wollten einen Sender gründen, der die Meinung aller Bürger bringen würde. Wir haben während der Wahlen alle Parteien eingeladen. Uns wurde gesagt, dass wir jemand gezielt unterstützen sollten. Da haben wir entgegnet: Warum? Das sind doch Wahlen, die Wähler sollten doch ihre Kandidaten kennen. Die Freiheit der Medien ist die Grundlage der Demokratie. Wenn wir keine unterschiedlichen Meinungen kennenlernen, dann entwickeln wir auch keine eigene Meinung. Man hat damals behauptet, dass ich für meine Tätigkeit aus dem Westen bezahlt werde. Aber wo sind die ganzen Koffer mit dem Geld? Man hat mir vorgeworfen, dass ich im Ausland war und mir dort beigebracht worden sei, wie man die Grundlagen des Staates ruiniert. Als ob ich nicht selbst denken könnte.
Wir haben gehört, dass Sie von der Staatsanwaltschaft in Rschew vorgeladen und verhört wurden. Was ist da vorgefallen?
Sie haben mich gefragt, was ich meine, wenn ich schreibe, dass Fragen des Krieges und des Friedens alle Bürger angehen. Dass unser Land sich in eine falsche Richtung bewegt. Was ich über die spezielle militärische Operation denke. [Anmerkung: In Russland ist es verboten, den russischen Überfall auf die Ukraine als "Krieg" zu bezeichnen, offiziell heißt die Invasion nach wie vor "spezielle militärische Operation".] Über die spezielle militärische Operation habe ich überhaupt nichts gesagt, mit der Begründung, dass jede meine Aussage falsch bewertet werden könnte. Ich habe denen gesagt, jeder hat seine Meinung dazu, abhängig von seinen Ansichten und Überzeugungen.
Hatten Sie den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft Sie von sich aus befragt hat?
Ich bin überzeugt, dass es ein Auftrag von oben war. Ich weiß, wie sehr die örtliche Staatsanwaltschaft beschäftigt ist, wie viel sie zu tun haben. Die würden doch nicht Zeit damit verschwenden, Kommentare im Netz zu meiner Tätigkeit zu lesen.
In welcher Atmosphäre verlief das Gespräch - freundlich oder aggressiv?
Es war ein höfliches Gespräch. Ich kenne die Leute aus meiner früheren Tätigkeit, deshalb waren sie eigentlich freundlich. Ich habe mit dem stellvertretenden Staatsanwalt gesprochen, er hat sehr menschlich erklärt: Jetzt sprechen wir noch relativ freundlich mit Ihnen, aber die nächsten Gespräche, die es ganz sicher geben wird, falls sie weitermachen, können anders sein.
Sie haben gesagt, der Zweite Weltkrieg sei für Sie sehr präsent. Wie meinen Sie das?
In Rschew steht ein großes Denkmal. Dort sieht man einen sowjetischen Soldaten. Er schaut auf uns alle und verkörpert alle Gefallenen aus der Gegend von Rschew. Insgesamt sind hier mehr als eine Million Soldaten gefallen.
Was sollte man tun, um Kriege zu vermeiden?
Kriege hat es in der menschlichen Geschichte sehr viele gegeben und bei dem Kampf gegen Krieg sollte man mit sich selbst beginnen. Der Mensch sollte für sich selbst entscheiden, dass Probleme nicht durch Konflikte gelöst werden können.
Und der Krieg in der Ukraine?
Im Konflikt in der Ukraine werde ich selbstverständlich auf Verhandlungen bestehen. Heutzutage ist Russland in einer günstigeren Position und ist bereit zu verhandeln, aber die Ukraine ist nicht dazu bereit. Man sollte einander verstehen. Die Russen haben ihre eigenen Gedanken darüber, wer an allem schuld ist, aber auch die Ukrainer haben ihre eigene Sicht und ihren Schmerz. Die Ukrainer glauben, Russland und Putin, das ist das Gleiche. Und sie sprechen von kollektiver Verantwortung. Das stimmt nicht. Die Anzahl der russischen Menschen, die gegen den Krieg sind, ist größer. Und zum Zweiten Weltkrieg: Ich wünsche mir sehr, dass dieses Blatt der Geschichte ein Blatt der Geschichte bleibt. Andere solche Blätter in unserer Geschichte brauchen wir nicht.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wäre für Sie als Präsidentin eine Verpflichtung?
Ja, denn unsere Bürger sollen in Sicherheit leben, und zweitens sollte man in Freundschaft leben, mit allen und mit sich selbst. Die spezielle militärische Operation hat ganze Familien zerstritten. Das ist furchtbar. Wir brauchen Frieden, wir dürfen der Welt nicht als Aggressoren vorkommen. Darunter leiden auch Menschen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen. Es entstehen auch Stereotypen, wie: die Russen sind schlecht.
Was sind die wichtigsten Punkte in Ihrem Programm?
Das sind nicht Punkte, sondern Aufgaben: die Befreiung aller politischen Häftlinge, die Abschaffung einiger Gesetze, die die Rechte der Bürger verletzen - unter anderem das Gesetz über ausländische Agenten. Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Machtorgane, und selbstverständlich die Wiederherstellung des Friedens.
Wie wollen Sie das erreichen?
Ich habe mich viel mit Journalismus beschäftigt und verstehe sehr gut den Standpunkt derjenigen, die in diese Geschichte verwickelt sind. Jeder hat seine Wahrheit. Die Meinungen derjenigen, die ihre Position verteidigen müssen, soll berücksichtigt werden. Das Wichtigste, was alle wollen, ist, dass wir in einem friedlichen Land leben. Ich zweifle sehr daran, dass Menschen, die zurzeit blutige Parolen proklamieren, keinen Frieden wollen. Sie wollen diesen Frieden genauso wie alle anderen. Nur wird zurzeit sehr viel Propaganda verbreitet. Menschen, die von früh bis spät am Fernseher sitzen - ich kann einfach nicht begreifen, wie deren Gehirn das aushält, das ist furchtbar. Die Nachrichten werden im Fernsehen so dargestellt, dass es einfach unmöglich ist, gesunden Menschenverstand zu bewahren. Deswegen sage ich: Nutzt unterschiedliche Quellen und entscheidet selbst. Zurzeit kann man immer noch viele Informationen im Internet bekommen. Es gibt zuverlässige Quellen, die ihre Informationen überprüfen.
Wenn Sie Präsidentin werden, was wird Ihr erster Erlass sein?
Der Erlass über die Begnadigung der politischen Häftlinge.
Warum nicht die Einstellung des Ukraine-Krieges?
Die politischen Häftlinge kann man an einem Tag begnadigen. Leider kann man den Konflikt in der Ukraine nicht an einem Tag lösen. Das ist eine lange Arbeit. Wir wissen leider noch nicht, wie die Ukraine reagieren wird, aber wir wollen, dass es zu einem gegenseitigen Prozess kommt.
Mit Ekaterina Duntsowa sprachen Peter Leontjew und Rainer Munz
Quelle: ntv.de