Das Phänomen Merkel Die Stimmungskanzlerin
21.11.2015, 13:58 Uhr
Man wird davon ausgehen können, dass gegenseitiger Respekt Angela Merkel und Gregor Gysi verbindet.
(Foto: picture alliance / dpa)
Bei einer so langen Kanzlerschaft wie der von Angela Merkel reicht es nicht, sich auf den Machterhalt zu konzentrieren. Für einen Satz allerdings muss man ihr Respekt zollen.
Angela Merkels politische Laufbahn begann schon in der Spät-DDR unter Lothar de Maizière. In den 90er Jahren galt sie als "Mädchen" von Helmut Kohl. Im Zuge der Spendenaffäre konnte sie aus seinem Schatten treten und den Vorsitz der CDU übernehmen. Von vielen ambitionierten Männern in der CDU nicht ganz ernst genommen, servierte sie ihre innerparteilichen Konkurrenten ab.
Wenn man den politischen Stil Merkels charakterisieren möchte, fühlt man sich teilweise an Helmut Kohl erinnert, der abwartete, wie sich die Gefechtslage entwickelte, um dann eine Entscheidung zu treffen. Man erkennt aber auch etwas anderes: enorme Lernfähigkeit. Die Leipziger Beschlüsse der CDU, das Einschwenken auf einen FDP-ähnlichen Neoliberalismus, führten zu erheblichen Verlusten der bei den Wahlen 2005. Angela Merkel zog daraus eben Schlüsse: Wenn schon neoliberal, dann mit sozialen Zugeständnissen an Gruppen, auf die man meint, nicht verzichten zu können. Das zieht sich bis in den jetzt geltenden Koalitionsvertrag durch. Ein anderes Beispiel für ihre Lernfähigkeit ist die Atomfrage. Den rot-grünen Atomausstiegsbeginn brach sie zunächst ab. Aber dann kam die Reaktorkatastrophe von Fukushima und mit ihr die Kehrtwende der Kanzlerin zur "Energiewende". Über Nacht kann sie in Ausnahmefällen auch Entscheidungen treffen.
Angela Merkel kann auch auf Leistungen zurückblicken. In der Finanzkrise 2008 hat sie schnell und entschlossen gehandelt. Dazu zähle ich die Erklärung, dass Spareinlagen sicher seien. Das hat die Gefahr einer Verschärfung der Krise durch einen Bankenrun gebannt. Auch hat sie Konjunkturprogramme und Kurzarbeit ermöglicht. Staatseingriffe waren nicht mehr tabu. Leider hat sie daraus keine Schlüsse generell für die Grundlagen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gezogen. Wohin sie mit Deutschland will, ist auch nach zehn Jahren Kanzlerschaft nicht zu erkennen. Gerade bei einer so langen Regierungszeit reicht es nicht, sich auf den Machterhalt zu konzentrieren.
Es ist der Parteivorsitzenden Merkel gelungen, die CDU zu modernisieren. Christliche "Leitkultur"? Gibt's nur noch am CSU-Stammtisch! Inzwischen sprechen auch konservative Politikerinnen und Politiker davon, dass auch der Islam zu Deutschland gehöre. Selbst in der Homosexualität sieht der Konservatismus bei aller überkommenen Wertschätzung der traditionellen Familie nichts Verunsicherndes mehr. Dadurch ist die CDU auch für Milieus wählbar geworden, die mit einem verstaubten, traditionellen Konservatismus nichts zu tun haben wollen. Dafür zahlte Angela Merkel aber auch einen Preis. National- und Rechtskonservative fühlen sich unwohl in der CDU, sie finden sich nicht mehr wieder. Das hat das Entstehen einer Partei wie der AfD begünstigt.
Es gibt aber auch deutliche Fehlleistungen. Die Aufkündigung der Solidarität mit Griechenland hat die Solidarität in der EU zerstört. Schäubles Drohung mit dem "Grexit" hätte sie niemals zulassen dürfen. Das rächt sich jetzt, wenn Deutschland in der Flüchtlingskrise Solidarität durch andere EU-Länder versagt wird. Aber gerade in der Flüchtlingsfrage möchte ich ihr insoweit meinen Respekt nicht versagen als sie erklärte: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Das ist doch mal ein Satz! Hat man so etwas schon von anderen deutschen Kanzlern gehört? Aber das zeigt auch, wie tief inzwischen die Polarisierung in diesem Land vorangeschritten ist. Merkels menschlicher Impuls wird inzwischen allerdings vom Handeln ihrer Regierung konterkariert, die auf Asylrechtsverschärfungen setzt. Flucht entsteht unter anderem durch Kriege, Hunger und Armut. Jetzt erst beginnt sie diesbezüglich zu handeln, was schon früher hätte geschehen müssen. Entweder die Weltprobleme werden von unserer und anderer Regierungen Schritt für Schritt gelöst oder sie kommen verschärft zu uns, bis sie unbeherrschbar werden.
Gibt es eine weitere Verlängerung der Merkel-Ära? Vielleicht, da die Union wohl über keine Alternative verfügt. Außerdem steht die Frage, ob SPD, Linke und Grüne in der Lage sein werden eine überzeugende, Massen mobilisierende Alternative aufzuzeigen.
Gregor Gysi war bis Oktober 2015 zehn Jahre lang Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.
Quelle: ntv.de