Eine Frage des Charakters Diesen Corona-Test werden wir vergeigen
09.10.2020, 13:13 Uhr
Vor einer Neuköllner Arztpraxis stehen die Patienten Schlange für einen Corona-Test.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Coronavirus ist nach Ansicht von Jens Spahn "ein Charaktertest für unsere Gesellschaft". Doch so einfach ist das nicht. Solidarität lässt sich nicht erzwingen - schon gar nicht von Menschen, die sich selbst nicht als Teil eines Ganzen verstehen.
Die Pandemie ist zurück. Und Gesundheitsminister Jens Spahn sieht es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Infektionszahlen wieder zu senken. Ein Charaktertest, wie er sagt, den es gemeinsam zu bestehen gelte. Doch das ist quasi unmöglich. Ein gesamtdeutsches Ego, wie es Spahn mit seiner Bemerkung herausfordern will, gibt es nicht. Deshalb wird es - vielleicht abgesehen von Spahn selbst - auch niemanden geben, der enttäuscht ist, wenn Deutschland beim Charaktertest versagt. Nicht Virus und Gesellschaft sind Gegner in der Pandemie, sondern Virus und Individuum. Nicht die Gesellschaft versagt, wenn sich Maskenverweigerer zum Rave in Berliner Parks treffen oder Brautpaare zur Großhochzeit in einer schlecht belüfteten Turnhalle laden. Es sind einzelne Menschen.
An die Verantwortung des einzelnen zu appellieren, ist müßig. Seit sieben Monaten lebt dieses Land mit der Pandemie - mit täglich gemeldeten Infektionszahlen, mit Steckbriefen und Handlungsanweisungen. Jeder weiß, wo und wie sich das Virus besonders schnell verbreitet. Wer in diesem Wissen dennoch gegen jede Vernunft handelt, sich selbst und andere in Gefahr bringt - der handelt gegen die Gesellschaft. Und dafür kann es mehrere Gründe geben. Purer Leichtsinn ist einer davon. Der Gedanke, dass es doch nur dieses eine Mal ist, dass schon nichts passieren wird, steckt hinter jedem spontanen Kneipenbesuch oder jeder privaten Feier. Der Wunsch nach ein bisschen Normalität im Ausnahmezustand: Er ist allzu verständlich - und lässt uns dennoch durchfallen im Charaktertest.
Dabei ist mangelnde Disziplin das geringste Problem. Es gibt Milieus, gerade in Großstädten wie Berlin, die sich weniger der gesamten Gesellschaft als den eigenen Traditionen oder dem eigenen Lebensgefühl verpflichtet fühlen. Zu beobachten ist das aktuell nicht nur in Berlin-Mitte oder Friedrichshain, sondern auch in Neuköllner Nachbarschaften, die herzlich wenig von den üblichen Regeln des Zusammenlebens halten. Über eine behördlich verordnete Maskenpflicht wird in diesen Kreisen bestenfalls diskutiert - eine Selbstverpflichtung ergibt sich daraus nicht. Diese Ignoranz treibt nicht nur die Infektionszahlen nach oben. Sie führt auch zu neuen Beschränkungen, die wiederum nur diejenigen treffen, die sich schon zuvor an die Regeln gehalten haben. Auch an dieser Stelle fallen wir durch den Charaktertest.
Auch die Politik fällt durch
Unsere Gesellschaft ist offenbar zu egoistisch, um sie in der Pandemie zur Solidargemeinschaft zu verklären. Mag sein, dass sich die große Mehrheit der Deutschen im Frühjahr angesichts der noch kaum kalkulierbaren Bedrohung durch das Virus nahezu geschlossen hinter den Empfehlungen von Bundesregierung und Robert-Koch-Institut versammelt hat. Inzwischen ist die Lage aber wesentlich diffuser. Zweifel haben sich auch in Schichten der Gesellschaft gegraben, die mit Esoterik und Aberglauben wenig am Hut haben. Die große Basis, die nötig ist, um den gesamtgesellschaftlichen Druck zum Maskentragen und Abstandhalten aufrechtzuerhalten, bröckelt. Brauchen wir das alles wirklich? Das ist die Frage, die sich viele Menschen stellen.
Und diejenigen, die es bisher nicht getan haben, werden es spätestens dann tun, wenn sie sich in einer der endlosen Schlangen vor Corona-Testpraxen wiederfinden. Wer in Berlin wohnt, darf nicht an die Ostsee fahren, aber nach Griechenland fliegen. Ist das sinnvoll?
Wenn Deutschland durch diesen Test fällt, ist das letztlich keine Charakterfrage. Es ist eine Frage der richtigen Politik. Die Politik muss es schaffen, ihre Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung nachvollziehbar zu gestalten. Die Politik muss zumindest versuchen, jedem Zweifler die Unsicherheit nehmen. Doch im Moment tut sie das Gegenteil. Bund und Länder sind sich über eine einheitliche Corona-Strategie sichtbar uneins. Allein die völlig verwirrenden Reiseregelungen liefern dafür den Beweis. Auch Spahn hat darauf keine Antwort. Warum sollte die Gesellschaft besser sein als ihre Anführer?
Quelle: ntv.de