
(Foto: imago/Jan Huebner)
Viele Menschen in Deutschland hadern mit der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Sie fühlen sich übergangen bei der Entscheidung. Die Konsequenzen bekommt Merkel nun zu spüren.
Wie fällt die Bilanz ein Jahr nach Beginn der Flüchtlingskrise aus? Angela Merkel steht auch heute noch zu ihrem Satz "Wir schaffen das". Dieser bleibe "selbstverständlich richtig", sagte sie im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Darin erklärt die Kanzlerin auch: "Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns daran lieb und teuer ist. Aber Deutschland hat sich seit Gründung der Bundesrepublik auch immer verändert. Veränderung ist nichts Schlechtes."
Merkel versucht damit, Ängste der Bevölkerung zu zerstreuen. Dies ist jedoch nicht so einfach. Merkel würde das so selbst wohl nie so klar sagen. Aber es ist offensichtlich, dass sie viele Deutsche mit ihrer Flüchtlingspolitik überfordert hat.
Noch im Sommer 2015 war die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen positiv. Anfang September hielten es laut ZDF-Politikbarometer 66 Prozent der Deutschen für richtig, Zehntausende Flüchtlinge einreisen zu lassen. Anfang Oktober war das schon anderes, 59 Prozent beurteilten das als Fehler. Weniger als jeder Fünfte sah Deutschland noch dazu in der Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die öffentliche Meinung kippte in die Richtung: Wie konnte die Kanzlerin das nur zulassen? Vielleicht hat Merkel unterschätzt, wie schnell Stimmungen umschlagen können.
Ende August 2015 sagte Merkel zum ersten Mal den Satz "Wir schaffen das". Es war ein Mutmach-Appell, die deutsche Version von Barack Obamas "Yes, we can". Aber je länger die Entscheidung, die Menschen für Flüchtlinge zu öffnen, zurücklag, umso mehr Deutsche fühlten sich übergangen. Viele wären gern miteinbezogen und gefragt worden, ob sie so viele Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen wollen. Aus ihrer Sicht hat Merkel ihnen ungefragt etwas zugemutet, was sie persönlich für richtig hielt. Immer größere Teile der Bevölkerung wollten es gar nicht schaffen.
Was, wenn Merkel anders entschieden hätte?
Die Konsequenzen sind spürbar: Infolge der Flüchtlingskrise erlebt Merkel ihre bisher schwierigste Zeit als Regierungschefin. Die vor einem Jahr fast tot geglaubte AfD feiert große Stimmengewinne. Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern werden die Rechtspopulisten – und das ausschließlich mit der Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik – mehr als 20 Prozent der Stimmen holen. Die Union ist in den Umfragen bundesweit um zehn Prozent abgestürzt, Merkels Popularität ist deutlich gesunken. Jeder Zweite will, dass sie im kommenden Jahr nicht mehr für eine weitere Amtszeit kandidiert. Was wäre passiert, wenn Merkel im September 2015 anders entschieden hätte?
Die Kanzlerin wollte damals verhindern, dass die Flüchtlingskrise die Balkanländer und damit Europa nachhaltig destabilisiert. In Ungarn, wo sich innerhalb kürzester Zeit Zehntausende Flüchtlinge stauten, spitzte sich die Lage dramatisch zu. Die Grenzöffnung sollte eine Ausnahme sein, das haben Regierungsvertreter schon damals immer wieder betont. Sie haben dennoch unterschätzt, dass Zehntausende die Entscheidung als Signal sahen, sich auf den Weg zu machen. Die Alternative zur Grenzöffnung wäre gewesen, die Flüchtlinge mit Gewalt zu stoppen. Flüchtlinge, die traumatisiert durch ihre Erfahrungen, erschöpft von ihrer Flucht, sich an den Grenzen Kämpfe mit Polizisten und Soldaten liefern. Unschöne Bilder. In Deutschland und auch anderswo wäre die Erschütterung groß gewesen. Nicht wenige hätten Merkel vorgeworfen: Wie konnte sie das nur zulassen?! Auch wenn sie sich damals anders entschieden hat, darf die Kanzlerin heute keine Dankbarkeit erwarten.
Ein Jahr nach Beginn der Flüchtlingskrise wird ihr dasselbe vorgeworfen: Wie konnte sie das nur zulassen?!
Quelle: ntv.de