Vertauschte Rollen im TV-Duell Mit einem Bein steht Merz schon im Kanzleramt
10.02.2025, 01:02 Uhr Artikel anhören
Der Amtsinhaber macht den bissigen Angreifer, der Herausforderer gibt den ruhigen Staatsmann. Das TV-Duell macht deutlich: Der Kanzler hat keinen Amtsbonus, sondern den Ampel-Nachteil.
Die Rollenverteilung in diesem TV-Duell war seltsam: Der Kanzler attackierte den Herausforderer weitaus stärker als umgekehrt. Olaf Scholz versuchte am Sonntagabend erkennbar vor allem Zweierlei: Mit bissigen Angriffen aus der Defensive zu kommen, sich führungsstark zu geben. Und den Kanzlerkandidaten der Union zu einem Patzer zu provozieren.
Das eine gelang, das andere nicht. Scholz war in den 90 Minuten überraschend lebendig. Allerdings stachen seine Provokationen ins Leere: Friedrich Merz ließ sich zu keiner unbedachten Äußerung hinreißen, die sein Team später mühsam hätte einfangen müssen.
Dabei ließ Scholz nichts unversucht. Er warf Merz Wort- und Tabubruch vor, weil dieser im Bundestag einen Gesetzentwurf mit den Stimmen der AfD beschließen lassen wollte. Er unterstellte, dass man Merz nicht mehr glauben könne, wenn der sage, er werde sich keinesfalls mithilfe der AfD zum Kanzler wählen lassen. Indirekt nannte er Merz "doof", weil sein Zustrombegrenzungsgesetz europäisches Recht breche, wo doch die Bundesregierung gerade erst eine europäische Regelung durchgesetzt habe. Er warf Merz vor, eine "Sprechblase" abgesondert zu haben. Merz' Ausführungen über die Finanzierung von Rüstungsausgaben nannte er "lächerlich".
Merz ging Scholz nicht in die Falle
Seit Monaten verbreiten die Strategen der SPD, Merz sei im Wahlkampf zu schlagen, weil er arrogant und unbeherrscht sei und deshalb Fehler mache. In seiner Regierungserklärung im Bundestag hatte Scholz Merz vorgeworfen, er habe den "Grundkonsens unserer Republik im Affekt" gekündigt, als er "gemeinsame Sache" mit der AfD gemacht habe. Im Affekt, das war ihm wichtig. Es ist die Erzählung vom allzu impulsiven Politiker, der sich nicht im Griff habe.
Doch Merz ging Scholz nicht in die Falle, sondern trat seinerseits auf, als stehe er mit einem Bein schon im Kanzleramt. Er warf Scholz vor, "nicht in dieser Welt" zu leben und an "der Realität da draußen" vorbeizureden. Das war es dann aber auch schon.
Dabei wirkte Merz aber nicht so belehrend, wie man ihn bei anderer Gelegenheit schon erlebt hat. In einer Situation, als Scholz den CDU-Chef argumentativ fast in die Enge gedrängt hatte, ließ Merz die Kritik einfach an sich abperlen. Scholz hat ja durchaus einen Punkt, wenn er sagt, es sei nicht gut, die steigenden Kosten für die Verteidigungspolitik, für die Waffenlieferungen an die Ukraine und auch für die ukrainischen Flüchtlinge auf "die normalen Leute" umzulegen. Dies sorge für gesellschaftlichen Unfrieden. Deshalb will Scholz eine Reform der Schuldenbremse.
Merz dagegen blieb bei diesem Thema sehr vage. Er sprach davon, "Prioritäten im Haushalt" neu zu setzen, von Wachstum und Einsparpotenzialen. Scholz' Vorwurf, Merz drücke sich um einen eigenen Vorschlag, war folglich nicht ganz von der Hand zu weisen. Merz konterte ihn trotzdem geschickt: Scholz und der SPD würden immer nur neue Schulden und höhere Steuern einfallen. "Das ist das Muster, das wir immer bei Ihnen sehen." Unabhängig davon, ob der Vorwurf zutrifft oder nicht: Bei nicht wenigen Zuschauern dürfte der Satz verfangen haben.
Alle Fehler der Ampel gehen mit Scholz nach Hause
Der Grund für die ungewöhnliche Rollenverteilung zwischen Amtsinhaber und Herausforderer liegt auf der Hand: Merz führt in den Umfragen, Scholz ist abgeschlagen. Stand jetzt muss die SPD hoffen, auf den dritten Platz zu kommen. Scholz kann froh sein, dass ARD und ZDF sich nicht an den Umfragen orientierten, als sie die gemeinsame Sendung vorbereiteten: In den jüngsten Erhebungen kommt die SPD auf 15 oder 16 Prozent, die Union dagegen auf 28 bis 31 Prozent. Die Grünen liegen etwa gleichauf bei 14 oder 15 Prozent, die AfD dagegen ist mit 20 bis 21 Prozent deutlich stärker als die Sozialdemokraten.
Gelaufen ist der Wahlkampf für die Union damit noch lange nicht, im Gegenteil: Merz muss verhindern, dass sich unter den Anhängern der Union das Gefühl ausbreitet, der Sieg sei praktisch sicher. Aber seine Situation ist deutlich komfortabler als die von Scholz. Der Kanzler muss strampeln, er muss den Wahlkampf drehen. Ihm haftet das verheerende Bild an, das die meisten Deutschen von seiner Bundesregierung haben. Alle Fehler, alle Versäumnisse gehen am Ende mit ihm nach Hause. Jeder Plan, den Scholz nun verkündet, ob in der Migrations- oder in der Wirtschaftspolitik, kann mit einem naheliegenden Vorwurf gekontert werden: Warum haben Sie das nicht längst umgesetzt? Der Kanzler hat keinen Amtsbonus, sondern den Ampel-Nachteil.
Angesichts dieser Ausgangslage sind Merz' persönliche Umfragewerte zwar erstaunlich schlecht. Aber entscheidend ist, dass die Union darauf hoffen kann, doppelt so stark zu werden wie die SPD und auch die Grünen. Merz' Motto für das TV-Duell dürfte gewesen sein: Bloß keine Fehler machen. Das hat er geschafft.
Quelle: ntv.de