
Donald Trump müsste aufhören, Donald Trump zu sein.
(Foto: AP)
Nach dem Anschlagsversuch sei Trump der Wahlsieg absolut sicher, heißt es. Aber dafür spricht nicht mehr als vor den Schüssen auch.
Die Kunst der nächsten Zeit wird für Politiker und Medien darin bestehen, Donald Trump als Opfer eines Mordversuches ehrliches Mitgefühl zu zollen - und zugleich darauf zu pochen, dass er bleibt, was er ist: ein nachgewiesen cholerischer Lügner, offenkundig ein Anti-Demokrat, der zu Wahlfälschung und zum Sturm auf das eigene Parlament anstachelte. Und ja, das geht zusammen, ohne dass man es in irgendeiner zynischen Weise gegeneinander "verrechnen" dürfte oder könnte. Sie sind beides objektiv Teil der Realität: das Opfer Donald Trump und der Täter Donald Trump. Wenn man das akzeptiert, verändert sich der Blick auf die mögliche oder nur vermeintlich wahlentscheidende Bedeutung des Attentatsversuchs.
Es ist verstörend, wie nun nahezu unisono erklärt wird, dass die US-Wahl im November "gelaufen" sei - dass der blutende Donald Trump, der die Schüsse überlebte, nicht mehr zu schlagen sei. Auf Seiten seiner politisch überforderten Gegner scheint sogar eine gewisse Erleichterung zu stecken, dass man den Wahlsieg Trumps nun auf einen Zufall schieben könne: die Millimeter, die die Kugel daneben ging.
Ja, der Moment hat atemberaubend bedeutungsstarke Bilder erbracht: Donald Trump geht zu Boden, aber er steht sofort wieder auf. Mit einem spektakulären Instinkt für den Moment reckt er die Faust in den Himmel, hinter ihm weht die Fahne der USA vor strahlend blauem Himmel. Nicht nur das "Time"-Magazine hat in diesem Foto die beste (allegorische) Zusammenfassung der Realität bei und nach den Schüssen gesehen: Trump ist stark. Joe Biden ist (körperlich) schwach. Das wird wirken.
Aber entscheiden das Ereignis und das Bild davon die Wahl im November? In einem Land, das "Stärke" gewiss verehrt und liebt, doch tausend verschiedene Dinge darunter versteht?
Alle, die fest vorhatten, Donald Trump zu wählen, werden nun vermutlich noch fester davon überzeugt sein. Das bringt noch keine zusätzliche Stimme, wenn alle, die fest entschlossen waren, Donald Trump nicht wählen, es nicht plötzlich aus Mitleid doch tun oder weil sie die Stärke Trumps neu begeistert. Diese Wähler fragen nach dem "Wozu" - und die Antwort darauf, Trumps Pläne und Ziele also, verändern sich durch den Anschlagsversuch kein bisschen. Seine narzisstische Neigung, sich für gottgleich unfehlbar und unbesiegbar zu halten, dürfte sich übrigens auch nicht abschwächen. Sie ist es aber, die bislang viele Wählerinnen eher auf Distanz hält.
Die Schwäche Bidens im TV-Duell hat prompt einige Prozentpunkte zu seinen Ungunsten verschoben, weil sie vernünftigerweise Fragen aufwarf und Zweifel bestärkte. Welche Fragen aber beantwortet Trumps (Nerven-)Stärke? Welche Zweifel zerstreut sie?
In den vergangenen Wochen attestierten die Umfragen Donald Trump gute bis sehr gute Chancen, die Wahl im November zu gewinnen, das heißt: die Mehrheit der Wahlmänner-Stimmen, auch wenn er das "popular vote" erneut krachend verlöre. Diesen Gewinner-Trend könnte Trump vermutlich verstärken, wenn er weise mit dem Anschlagsversuch umzugehen wüsste. Wenn er keine haltlosen Verschwörungstheorien und keine düsteren Rachefantasien bedient, mit denen er seine Anhänger sonst anzustacheln ersucht. Die ersten 48 Stunden nach dem Mordversuch klingen in diesem Sinne überraschend friedfertig. Diesen Ton beizubehalten, könnte Donald Trump den Wahlsieg vollends sichern, weil er zögernde Wechselwähler auf seine Seite zieht. Dass er es schafft, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich: Schließlich müsste Donald Trump aufhören, Donald Trump zu sein.
Quelle: ntv.de