Wieduwilts Woche

Es gibt Anlass zur Sorge Der politischen Mitte fehlt die Vision

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Wahlplakate im verschneiten Berlin - in gut einer Woche werden sie wieder abgehängt.

Wahlplakate im verschneiten Berlin - in gut einer Woche werden sie wieder abgehängt.

(Foto: dpa)

Das Merz-Manöver mit der AfD war keine politische Katastrophe – aber es hat linken Parteien das gegeben, was ihnen lange fehlte: eine Lebensaufgabe.

Wieder ein Anschlag, diesmal München, und für jeden, der noch in einer unbetroffenen Stadt wohnt, wird es schwierig, Stadt und Tat richtig einander zuzuordnen: Es beginnt ein makabres Mord-Memory. Die Rituale für Opfer und Hinterbliebene sind eingeübt, so sehr, dass geradezu Resignation aufzukommen scheint. Markus Söder (CSU) sagte in einem Nebensatz, "wer weiß, was noch kommt". Recht hat er ja, bis zur Bundestagswahl sind ja auch noch ein paar Tage.

Der schwache Trost: München wird wohl nicht mehr viel am Ergebnis ändern. Die Angst vor Anschlägen durch Migranten sitzt ohnehin schon tief in weiten Teilen der Bevölkerung. Der Wunsch nach politischen Maßnahmen gegen Einwanderung war schon vorher groß. Groß ist aber auch die Aversion gegen jede Form der gemeinsamen Sache mit der AfD, von ganz links bis tief in die Mitte hinein.

Betrachtet man die Umfragen, scheint die Strategie von CDU-Chef Friedrich Merz, die demokratische Mitte mit dem Zuspruch aus der AfD zu erpressen, nicht komplett danebengegangen zu sein. Die Werte haben sich kaum verändert.

Neue Risse im politischen Spektrum

Allein die Linke konnte spürbar Zuwachs vermelden. Das liegt womöglich daran, mutmaßen Linkenkenner, weil sie für viele Wähler den Antifaschismus glaubwürdiger vertreten als jene Parteien, die Koalitionen mit der CDU eingehen würden. Vielleicht liegt es auch am frischen Auftritt der beiden Vorsitzenden, Ines Schwerdtner und Jan van Aken, oder am ebenso unverzagten "Projekt Silberlocke" der drei Direktkandidaten Gysi, Ramelow und Bartsch.

Sieht man näher hin, durchziehen neue Risse das politische Spektrum vor allem in der Mitte seit der Abstimmung über zwei Entschließungsanträge und das Zustrombegrenzungsgesetz. Die FDP hat in jener Woche keinen Kurs gefunden und zerbröselt vor laufenden Kameras, trotz kluger Versuche, einen Kompromiss zu schmieden. Sie steht nun noch deutlicher unter der 5-Prozent-Hürde.

Damit entfällt zugleich die einzige Koalition, die als Mehrheitsregierung ohne Beteiligung der AfD einen neuen Kurs rechts der Mitte hätte einschlagen können. Hätte die FDP sich an dieser Stelle geeint zu Merz’ Kurs bekannt, hätten CDU, CSU und die Liberalen als Koalition für die Migrations- und Wirtschaftswende für einen Kurswechsel werben können. Jetzt ereilt die Liberalen das Schicksal aller Parteien, die kurz vor der Wahl deutlich unter 5 Prozent landen: Sie verlieren eher noch mehr, als dass sie sich erholen.

Flüchtige Koalitionen

Daran hat Friedrich Merz seinen Anteil, er sagte kürzlich, vier Prozent seien noch zu viel für die FDP. Was sich dadurch abzeichnet, darf durchaus zu Panik einladen: Es droht nach der Wahl eine weitere Koalition, in der die politischen Vektoren in unterschiedliche Richtungen zeigen. Die neue Regierung könnte wie die alte schon unter Fliehkräften starten und womöglich auf halbem Wege auseinanderreißen.

Dieses Schicksal könnte eine Große Koalition ereilen, die sich in Sachen Ukraine und Verteidigung, Bürgergeld und Schuldenbremse entzweit. Oder eine Jamaika-Koalition, die sich weder beim Megathema Wirtschaft noch beim Megathema Migration auch nur im Ansatz einigen kann und vermutlich so flüchtig wäre wie das Higgs-Boson-Teilchen.

Womöglich gelingt gar keine Koalition oder es droht eine Minderheitsregierung unter wechselnden Mehrheiten. Wer glaubt dann noch an die Gestaltungskraft der gemäßigten Parteien in und um die Mitte?

"Nie wieder Faschismus"

Die andere, wohl deutlich stabilere Möglichkeit wäre ein linkes Bündnis aus SPD, Grüne, der neuen starken Linken und des BSW. Es hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber einer Großen Koalition und Jamaika: Sie zieht in eine klare Richtung.

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Die Vision linker Parteien lautet: "Nie wieder Faschismus". Bis vor Kurzem schien das ein mitlaufendes Politikziel zu sein, eine Art Aufnäher mit viel moralischem Wert, aber geringem praktischem Nutzen.

Das hat sich grundlegend geändert mit den Abstimmungen über Migration und Sicherheit. Plötzlich schien es manchen Menschen, als klopfe 1933 an die Tür. Merz hat also nicht die AfD stark gemacht, indem er ihren Zuspruch in Kauf nahm - sondern den Aufnäher der Linken zu einer Vision konkretisiert, die greifbar scheint wie das Versprechen von 15 Euro Mindestlohn.

"Liebe" allein reicht nicht

Diese Konkretisierung ist mächtig, denn ohne kohärente Erzählung zerfällt jede politische Bewegung, siehe Ampel. Menschen wählen Visionen, auch wenn sie im Zusammenhang mit Visionen genau so gern und hämisch Helmut Schmidt zitieren. Sie wählen nicht einzelne Bulletpoints aus Parteiprogrammen oder brav vorgetragene Erfolgsbilanzen. Sie wählen nicht abstrakte Werte wie "Zuversicht" oder "Liebe" (Zitate aus Grünenplakaten), sie wählen ein konkretes Weltversprechen.

Das ist ein Grund für den Erfolg des argentinischen Präsidenten Javier Milei: Seine Vision war Libertarismus oder, wie er sagt, der Anarchokapitalismus, oder, wie er zeigt, die Kettensäge. Eine Vision ist eine Welt, die nach bestimmten Regeln neu geordnet wird - und nicht durch eine Myriade von Kompromissen zurechtgeeinigt. Mileis Weltversprechen bestand darin, Ministerien wegzureißen, mit einem fröhlichen "Afuera!" ("Raus!"). Schlanker sollte der Staat werden. Das versteht jeder, der schon einmal unzufrieden vor einem Spiegel stand.

Es ist ein Grund für den Erfolg Donald Trumps. Er verspricht ein "goldenes Zeitalter". Die Vision ist auch ein wichtiger Erfolgsfaktor, auch der AfD: "Deutschland. Aber normal". Und die Linken wollen Milliardäre abschaffen - klingt krass, aber man glaubt zu wissen, was gemeint ist.

Ordnung mit einer unordentlichen Partei?

Und die Union? Sie tritt zwar an mit dem Versprechen, die Dinge wieder "in Ordnung" zu bringen - das funktioniert aber nicht, wenn diese Ordnung immer dann, wenn es eng wird, vom Kooperationswillen einer geächteten, unordentlichen Partei abhängt.

Die Mitte hat es nicht geschafft, eine Vision zu vermitteln, weder bei der Migration noch in der Wirtschaftspolitik. Sie wirkt blockiert und verzagt. Das mag den politischen Realitäten geschuldet sein, aber es ändert nichts am Ergebnis: Die politischen Ränder haben derzeit die scheinbar attraktiveren Angebote.

Das gibt Anlass zur Sorge für die kommende Bundestagswahl - und erst recht für die Wahl, die danach folgt.

Quelle: ntv.de

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