Wieduwilts Woche Deutschland am Kipppunkt: Wünscht sich jeder Fünfte den Rechtsextremismus?


Dazu drei Fragen: Warum? Warum? Und: Warum?
(Foto: picture alliance / Britta Pedersen/dpa)
Die Ampel hat zu viel Vertrauen verspielt und die CDU gewinnt es nicht zurück. Die AfD muss nur abwarten und Bier trinken.
Angenommen, ich bin knallkonservativ. Wenn ich aus dem Bett steige, stehe ich kurz vor einem Franz-Josef-Strauß-Poster stramm. Mit dem Lineal ziehe ich im Bad meinen Scheitel, bevor ich mit dem Koffer in der Hand im Kurzarmhemd zur Arbeit gehe - kein Homeoffice, keine Viertagewoche, ich arbeite 60 Stunden im Büro, denn ich bin kein Weichei. Ich habe nichts gegen Ausländer, aber sie sollten schon Deutsch und die Nationalhymne können. Ich habe ein Haus, zwei Benziner und drei Kinder. Und dann, im Sommer 2023, fragt mich jemand, wen ich wählen will. Ich überlege und denke eine Weile an Friedrich Merz. Und was sage ich dann? "Die AfD"? Dazu drei Fragen: Warum? Warum? Und: Warum?
Jeder fünfte Deutsche wählt die Rechtsextremen, die anderen vier von den fünfen stehen deshalb unter Schock: Wie konnte das denn jetzt passieren? Die AfD, ein heillos zerstrittener, unfähiger, "gäriger Haufen" (A. Gauland)? Eine Partei, in der sie vom 1000-jährigen Deutschland schwadronieren, gegen deren Björn Höcke gerade die Staatsanwaltschaft ermittelt, weil ihm kürzlich ein "Alles für Deutschland" rausgerutscht sein soll (huch!). Mit einer Beatrix von Storch, aus deren Gesicht Hass mit derartigem Hochdruck herausspritzt, dass sie damit problemlos den Mond sandstrahlen könnte.
Wer links steht, macht gerade CDU und FDP verantwortlich, die Konservativen in beiden Parteien hätten einen Rechtsruck in Deutschland verursacht. Die Opposition wiederum sieht den Grund im Linksruck der Ampel. Nur in einem sind sich alle einig: Nichts spricht für die AfD. Die Partei hat nichts Sinnvolles gefordert, sie hat niemanden emotionalisiert, im Grunde war sie sogar recht still in den letzten Monaten. Wünschen sich die Menschen also gar nicht die AfD - sondern einfach alle anderen nicht?
Über Jahrzehnte schwelende Vertrauenskrise
Dafür gibt es einige gute Anhaltspunkte. Das Heizungsdebakel war womöglich das Fanal einer über Jahrzehnte schwelenden Vertrauenskrise. Die "Zeit"-Journalistin Anita Blasberg hat in ihrem Buch "Der Verlust" nachgezeichnet, wie Deutschlands Regierungen das Vertrauen vieler Menschen verloren haben. Das Buch ist entlang eines Gesprächs mit ihrer entfremdeten Mutter strukturiert, Blasberg hüpft dann von einem historischen Tiefpunkt zum nächsten: Das kalte "Ich AG"-Gequatsche der Agenda 2010, das trotz Finanzkrise eher folgenlose Zocken der Banken, die hochfliegenden Pläne zu "Stuttgart 21", der Kontrollverlust im Flüchtlingsjahr 2015, die Kaputtrationalisierung des Gesundheitswesens, ein grotesk überschießender Staat in der Pandemie (Lesen auf Parkbänken verboten!) und natürlich die Maskendeals, um nur einige zu nennen.
Mit jedem Schlag verlor Blasberg ihre eigene Mutter ein Stück, bis sie kaum noch mit ihr reden konnte - und genau das dann doch tat. Das Buch ist im Oktober 2022 erschienen, also wenige Monate, bevor die Grünen mit dem Heizungsgesetz sämtliche Empathie über Bord warfen und Robert Habeck unter Vorwürfen der Vetternwirtschaft seinen Staatssekretär entlassen musste.
Vertrauen? Welches Vertrauen? Es ist, so scheint es, ein Kipppunkt erreicht. Ob der Vertrauensverlust berechtigt ist oder nicht, ist für die politische Betrachtung kaum relevant. Revolutionen führen meist nicht die Menschen an, denen es selbst wirklich schlecht geht, sondern jene, die den wahrgenommenen Missstand der anderen beheben wollen. Realität ist das, was kommunizierbar ist. Wenn es Deutschland eigentlich prima geht, aber es niemand glaubt - welche Rolle spielt es dann?
Was sagt eigentlich Scholz?
Schön wäre es, wenn jemand durch politische Führung die Realität strukturieren würde. Was sagt denn eigentlich Bundeskanzler? Nicht mehr "Respekt für Dich", soviel steht fest. Olaf Scholz hat die Tonlage geändert: "Warum gibt es solche Schlechte-Laune-Parteien?", fragte er kürzlich angesichts des 18-Prozent-Schocks. Es klang ein wenig nach dem Marie Antoinette untergeschobenen Zitat "sollen sie doch Kuchen essen": Multikrisen, Rezession, Abstiegsängste - nun lach‘ doch mal! Die mitangesprochene AfD-Vorsitzende Alice Weidel wusste diese Vorlage zu verwandeln: "Den Bürgern ist tatsächlich das Lachen gründlich vergangen", konterte sie.
Die öde, wirksame Botschaft: Ihr da oben - wir hier unten. Die AfD kommuniziert empathischer als der sozialdemokratische Kanzler? Das sagt derzeit alles über die deutsche Gegenwart. Aber wenn die Ampel versagt hätte und wirklich für den Linksruck stünde, warum wenden sich die 18 Prozent Unabgeholten dann nicht einfach der CDU zu?
Parteichef Friedrich Merz samt Entourage sowie die Republikaner-Fans in der CSU geben sich immerhin recht viel Mühe, einen Kulturkampf wie in den Vereinigten Staaten anzuzetteln: "Im normalen Leben beschäftigen sich die Menschen nicht mit 'Indianern' und 'Mohrenstraßen', sondern mit Inflation und Wohnungsnot", schreibt Merz in seiner Merzmail. Doch dieser "Krawallkonservatismus", wie Liane Bednarz, Publizistin und selbst in der CDU, es kürzlich nannte, ist genau der Fehler. Die CDU wird das Vertrauen nicht zurückgewinnen, wenn sie sich ihrerseits auf Kulturkampfquatsch wie das Gendern stürzt, nur eben von der anderen Seite aus - statt sich tatsächlich um Sachthemen zu kümmern: Energie, Wirtschaft, Gesundheit und Soziales. Elitenquatsch bleibt eben Elitenquatsch.
Merz ist der richtige CDU-Chef - eigentlich
Der CDU nimmt es zudem niemand ab, eine Art schadstofffreie AfD zu sein: Sie disqualifiziert sich bei vielen Vertrauensverlusten als historische Mittäterin. Sie war unter Merkel Gestalterin in der Finanzkrise, bei der Abkehr von der Atomkraft, in der Flüchtlingskrise. Schon deshalb könnte ein alter Merkel-Rivale wie Merz der einzig richtige CDU-Chef für die Gegenwart sein - nicht ein Merkelianer wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther. Etwas anders liegt die Sache beim Hoffnungsträger Hendrik Wüst, aber der muss erst noch Merz’ Scheitern abwarten.
Selbst Merzkritiker in der CDU raunen, der Chef schreibe seinen kulturkämpferischen Wahnsinn nicht selbst, sondern bekomme ihn von anderen diktiert. Die Gruppierung "The Republic" kommt einem da in den Sinn. Zur Erinnerung: Das ist eine Art CDU-Webseite mit Trump-Perücke, schrill, aggressiv, unseriös. Auf der Reise zum Republikaner-Kandidaten Ron DeSantis war auch von denen einer dabei, sowie die CSU-Politikerin Dorothee Bär.
Kurz darauf warnte die Bär übrigens in einem Gastbeitrag vor der "Entbiologisierung der Gesellschaft" durch das Transsexuellengesetz. Diese Regelung betrifft, Sie ahnen es, Transsexuelle. Das sind 0,33 bis 0,7 Prozent der Deutschen. Gut, dass die CSU sich da kümmert!
Kann die Union noch bürgerlichen Konservatismus?
Die Realität macht derweil ihr Ding: Sie schreitet voran. Die deutsche "Rezession wird schärfer", schreibt die FAZ mit Bezug auf die neuesten Auftragszahlen. Jeder sechste Betrieb wandere ab, vermeldet der Bundesverband der Industrie. In Frankreich sticht ein syrischer Flüchtling auf Kinder auf einem Spielplatz ein.
Die AfD hat auf diese Entwicklungen auch keine guten Antworten, aber, so frohlockt man dort, die brauche man auch nicht: Es reiche ja das Scheitern der anderen. Vieles, vielleicht alles hängt jetzt an der Union und der Frage, ob sie noch sachorientieren, bürgerlichen Konservatismus kann - oder nur noch Gender-Gaga.
Quelle: ntv.de