Gegen das Establishment Von diesem Kettensägenmann können wir lernen!
19.01.2024, 14:12 Uhr Artikel anhören
Der argentinische Präsident Javier Milei - ein Verrückter? Oder ein Mann mit Plan?
(Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa)
Die Ampel-Regierung hat kein Ziel - anders als Argentiniens neuer Präsident Javier Milei: Der wirbt hemmungslos für Wirtschaft und Freiheit. Brauchen wir so einen auch?
Die Ampel sonnt sich angesichts aufbrandender Unzufriedenheit in vermeintlicher Alternativlosigkeit. Der Bundesfinanzminister biedert sich mit Pferdestallgeschichten, Asyl- und Bürgergeldkritik bei den Landwirten an und der Kanzler verschickt seine Botschaften inzwischen als Screenshot aus der Notizenapp, als wäre er Influencer auf Instagram. Inhaltlich passiert nichts: "Ihr seid für uns oder gegen die Verfassung", so klingt es bisweilen. Diese Regierung gibt sich keine Mühe, ein gemeinsames Ziel auszurufen.
Das einzige erkennbar gemeinsame Anliegen der Regierungsparteien teilt dummerweise auch die Union: Alle warnen inzwischen deutlicher vor dem, was die Alternative für Deutschland im Angebot hätte. Die Menschen lebten nicht besser in China und Russland, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kürzlich in Berlin, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnt im "Stern", die AfD wolle "aus Deutschland einen Staat wie Russland machen". "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es falsch ist, die AfD nur zu ignorieren", stimmt Unionschef Friedrich Merz in den Chor ein.
AfD-Bekämpfung ist ja auch ein hehres Ziel: Gerade haben uns die Recherchen von "Correctiv" zum "Geheimtreffen in Potsdam" einen Eindruck davon gegeben, was unter den Blauen passieren könnte: Deportation von Gesinnungsfeinden nach Afrika, ethnische Reinhaltung, ein autoritärer Albtraum. Zehntausende Menschen gingen dagegen in deutschen Städten auf die Straße, oft von linken Bündnissen initiiert, aber immerhin: ein Zeichen gegen den Rechtsruck.
"Gegen AfD" reicht nicht
Doch es reicht nicht, nur gegen etwas zu sein, man muss auch ein Dafür finden. Dass im linken "Berliner Ensemble" die Correctiv-Recherchen als Theaterstück vermarktet wurden, mag in den Altbauten der Hauptstadt für ein Gefühl des Engagiertseins und ein bisschen Grusel sorgen. Der Regisseur Kay Voges sagte in der "taz", das Theater sei der richtige Ort für eine "Schulung in Mündigkeit". Aber glaubt jemand ernsthaft, diese Aufführung zerrte irgendjemanden von der AfD weg?
Eine echte Idee müsste her, eine Richtung, eine Vision, die sich nicht nur darin erschöpft, nun ebenfalls etwas gegen Ausländer und arbeitsscheue Deutsche zu unternehmen.
Die erschreckend vielen Bürger, die in Umfragen angeben, sie wünschten sich eine "Partei für die Volksgemeinschaft", suchen womöglich keine neuen Nazis. Vielleicht suchen sie Identität. "Nationale Identität" sei ein soziales Konstrukt, das freiheitliche Werte unterminieren könne, schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vor ein paar Jahren. Dort, wo nationale Identität fehle, freuten sich autoritäre Kräfte.
Wer sind wir Deutschen im Jahr 2024?
Deutschland fehlt diese Identität. Deutsche erinnern an die alten Nazis und sehen die neuen, aber dazwischen klafft das Nichts. "Made in Germany" ist vorbei. Die fröhliche Weltoffenheit aus dem "Sommermärchen" des Jahres 2006 ist an der Migrationskrise von 2015 zerbrochen. Wer sind wir jetzt, im Jahr 2024?
Die AfD wirbt mit dem brillanten, weil sofort verständlichen Slogan: "Deutschland, aber normal": Das ist eine intellektuelle Notbremse, aber man versteht, was gemeint ist. Die Lösung kann nun nicht darin liegen, dumpfen Nationalstolz nachzuäffen. Das ist das schlichte Rezept des ehemals sozialistischen französischen Präsidenten Emmanuel Macron: Er sagte gerade Sätze, die von seiner Gegnerin Marine Le Pen oder eben der AfD stammen könnten, etwa "Frankreich muss Frankreich bleiben".
Es geht anders: Fukuyama schreibt nämlich auch, dass nationale Identität freiheitliche Werte stärken könne. Gerade vielfältige Staaten wie die Vereinigten Staaten hätten nicht über Rasse, Ethnie und Religion, wohl aber über politische Prinzipien zu einer nationalen Identität gefunden. Die Union leitet aus diesem Gedanken ihre "Leitkultur" ab, manche werben für "Verfassungspatriotismus". Das eine neigt zur Übergriffigkeit, das andere führt nicht zu dem, was Jürgen Habermas einmal eine notwendige "demokratische Polarisierung" nannte.
Weniger Staat wagen
Auffällig oft schreiben mir Leserinnen und Leser, sie würden die wirtschaftliche Freiheit und Vernunft vermissen. Vielleicht liegt hier ja ein erster Brotkrumen, der uns aus dem Hexenwald führt: Ist mutige, dezidiert freiheitliche Wirtschaftspolitik womöglich identitätsstiftend? Im ehemals sozialistischen Argentinien hat sich gerade ein schriller Ökonom ins Amt des Präsidenten gekämpft: Javier Milei, Anarcho-Kapitalist, kommuniziert in bunten Farben: Mehr Kapitalismus, weniger Staat, "es lebe die Freiheit, verdammt!". Den Westen sieht er "in Gefahr".
Milei beherrscht, anders als Scholz, den Registerwechsel für die Medien: In Davos zitiert er Hayek, andernorts fuchtelt er mit einer Kettensäge gegen das Establishment. Er demonstriert Sparsamkeit, indem er bescheidene Autos fährt und mit der Linienmaschine nach Davos fliegt. Das mag alles platt sein, aber es inspiriert. Weniger ist das der Fall bei der seit Amtsantritt auf 200 Prozent gestiegenen Inflation oder Mileis Ambitionen, den Kongress zu entmachten.
Auch in Deutschland hat einmal ein kleiner Mann mit Wirtschaftspolitik gepunktet, er hatte die Kettensäge aber in der Stimme, nicht in der Hand: Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010. Zugegeben, zuletzt hatte Wirtschaftspolitik einen schweren Stand in Deutschland: Die Finanzkrise bescherte vielen Menschen das Gefühl, internationalen Märkten ausgeliefert zu sein, Linken schien freie Wirtschaft als Hydra, der es die Köpfe abzuschlagen gilt, das Land war satt. Doch das war gestern, heute ist Rezession.
"Leitkultur"-Muff statt Freiheit
Die Union hat daher womöglich eine große Chance, wenn sie bis zur Bundestagswahl eine mitreißende wirtschaftspolitische Erzählung findet. Mutiger Kapitalismus lässt sich gut verbinden mit einer entschiedenen, freiheitsfreundlichen Außenpolitik gegenüber Israelfeinden, Repression im Iran und Solidarität mit der Ukraine. Mit der aufkeimenden Debatte um die Schuldenbremse tut sich zudem an genau der richtigen, nämlich wirtschaftspolitischen Stelle eine Bruchstelle in der Ampel auf.
Die Opposition nutzt das Momentum nicht - noch nicht. Friedrich Merz hat zwar klügere Wirtschaftspolitik versprochen, von einer wirkmächtigen Vision ist er so weit entfernt wie von einer Kettensäge. Er hat stattdessen den Politzombie "Leitkultur" hervorgeholt und Muslime ermahnt. Die Union präsentiert Variationen des Dagegenseins, frei oder inspirierend ist das nicht. Die AfD bietet ihrerseits zwar nur Ressentiments, völkischen Wahn und eine selbstmörderische Wirtschaftspolitik. Aber sie hat eine Vision parat, die jeder sofort versteht: "Deutschland, aber normal."
Viele Deutsche wollen womöglich lieber irgendetwas sein als überhaupt nichts mehr.
Quelle: ntv.de