Merkels Haltung zu Böhmermann "Mehr Zurückhaltung wäre klüger"
15.04.2016, 20:18 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Das Gedicht "Schmähkritik" von Jan Böhmermann für den türkischen Präsidenten Erdogan erhitzt auch gut zwei Wochen nach seiner Veröffentlichung die Gemüter. Kanzlerin Merkel lässt Ermittlungen gegen den Satiriker zu - und erntet Kritik aus der Koalition. Ebenso heftig wie die Politik diskutiert auch die Presse die Ermittlungen.
Für Die Welt hätte uns Angela Merkel "diesen elenden Freitag, diesen Kotau vor Recep Tayyip Erdogan" wahrlich ersparen können: "Wird Böhmermann freigesprochen, hat die Bundeskanzlerin ein neues Erdogan-Problem. Dann würde das Gericht ja trotz Merkels Genehmigung zur Strafverfolgung bestätigen, dass ein Satiriker dem großen Osmanen allerlei unerhörte Dinge nachsagen darf. Jemand wie der türkische Präsident lässt sich nicht am eigenen Leibe über den deutschen Rechtsstaat belehren, und um den eigenen Leib, die eigene Ehre geht es in seinen Augen ja. Wenn Böhmermann hingegen verurteilt wird, wird es als Merkel-Erdogan-Urteil in die Annalen eingehen. Dann wird Deutschland nicht nur von Erdogan, sondern von allen Partnern als erpressbar wahrgenommen - denn es hat auf hochpolitische Weise einen Prozess wegen Majestätsbeleidigung zugelassen, den es so hochpolitisch gar nicht hätte zulassen müssen."
Der Tagesspiegel möchte noch einmal klarstellen: "Eine andere Haltung wäre möglich. Und nicht nur möglich, sondern geboten. Nämlich die, Erdogan nicht nachzugeben, so dass es von ihm als Kotau gedeutet werden kann. Eben nicht auch nur den Hauch des Eindrucks zu hinterlassen, für die Lösung in der Flüchtlingsfrage werde die Meinungsfreiheit verraten und verkauft. Nein, nein, so ist es nicht, wird jetzt der Unionsteil der Regierung aufschreien - Pech nur, dass es in diesem Zusammenhang so wirkt.
Die Stuttgarter Zeitung gibt Merkel recht: "Die Kanzlerin hat in dieser zur Staatsaffäre aufgeblasenen Medienposse keine glückliche Rolle gespielt. Mehr Zurückhaltung wäre klüger gewesen. Souverän war allerdings ihre Entscheidung vom Freitag. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Erdogans Ermittlungsersuchen stattzugeben. Schließlich gibt es weitaus harmlosere Präzedenzfälle, in denen die Regierung ebenso entschieden hat. Den heiklen Fall der Justiz zu überlassen ist keineswegs ein Indiz für Erpressbarkeit. Erdogan bleibt nun auf den unabhängigen Rechtsstaat verwiesen, den er zu Hause mit Füßen tritt. Merkels Erklärungen dazu sind nichts weniger als eine diplomatisch verklausulierte Lektion für den selbstherrlichen Sultan. Konsequent ist zudem, einen Paragrafen aus der Welt zu schaffen, der zu einer Zeit erfunden worden ist, als Potentaten wie Erdogan noch Sonderrechte beanspruchen durften.
Laut der Mitteldeutschen Zeitung geht es vor allem die richtige Einordnung: "Ein Gericht wird nun beurteilen müssen, ob es sich bei Böhmermanns Satire um eine von der Meinungs- und Kunstfreiheit nicht gedeckte Schmähkritik gehandelt hat. Böhmermann wollte nach eigenem Eingeständnis den türkischen Präsidenten sowohl kränken als auch diffamieren, doch offensichtlich hatte seine Satire einen sachlichen Bezug: Die von Erdogan verfügte Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Verfolgung unbotmäßiger Journalisten und Künstler, die Repressionen gegen auf ihre Unabhängigkeit pochende Richter. Hat Böhmermann also erreicht, was er wollte? Wenn sein Ziel gewesen ist, Erdogan zu reizen, die Bundesregierung in eine unangenehme Lage zu bringen und seinen Namen populär zu machen, dann hat er es erreicht. Sollte seine Absicht hingegen gewesen sein, eine Debatte über die repressive Politik Erdogans in Gang zu setzen, dann hat er es dramatisch verfehlt. Aus der Mediendemokratie droht eine Gelächterdemokratie zu werden. Der Diskurs hat ausgedient, es zählt die schärfste Pointe."
Der Berliner Zeitung zufolge gibt es auch einen guten Aspekt und Recep Tayyip Erdogan dürfte sich bei der deutschen Bundesregierung bedanken: "Sie hat ihm mit ihrer Entscheidung, das Urteil über das Schmähgedicht des Comedians Jan Böhmermann der Justiz zu überlassen, zu einer wertvollen Erfahrung verholfen. Vielleicht hat der autokratische Präsident der Türkei von Gewaltenteilung schon einmal gehört, Angela Merkel hat ihm nunmehr gezeigt, was der Begriff bedeutet - unmissverständlich und auf zweifache Weise. Sie hat nicht nur zu Recht auf die Zuständigkeit der Rechtsprechung verwiesen, sondern zugleich endlich die Abschaffung des "Majestätsbeleidigungs"-Paragrafen (§103 Strafgesetzbuch) in Aussicht gestellt. Insofern, aber nur insofern, dürfen sich die Deutschen auch bei Erdogan bedanken.
Zusammengestellt von Lisa Schwesig.
Quelle: ntv.de