Flüchtlingspolitik wird Chefsache "Wunder wird Altmaier nicht vollbringen"
07.10.2015, 21:30 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Änderungen der Zuständigkeiten im Bereich der Flüchtlingspolitik schlagen hohe Wellen in den Kommentaren der Tageszeitungen. Die Errichtung einer eigenen Stabsstelle im Kanzleramt als Ort, der künftig als ressortübergreifende Zentrale in der Koordinierung der Flüchtlingspolitik fungieren soll, wird von den Kommentatorinnen ganz unterschiedlich aufgefasst.
Die Allgemeine Zeitung aus Mainz geht harsch mit Innenminister Thomas de Maizière ins Gericht, begrüßt die Zentralisierung der Zuständigkeiten und meint es sei "überfällig, dass Angela Merkel das Krisenmanagement in Sachen Flüchtlingspolitik an sich zieht. Es war und ist die Kanzlerin, die dieses Land einer Belastungsprobe historischen Ausmaßes aussetzt. Also muss auch sie dafür sorgen, dass man es in den Griff bekommt. Mit überforderten Kommunen, freund-feindlichen Ministerpräsidenten und einem anhaltend peinlichen Innenminister war da noch nie Staat zu machen."
Der Münchner Merkur legt eine andere Deutung der Kompetenzübertragung von de Mazière zu Altmaier nahe: "Und wieder ist einer weg. Angela Merkel hat ihrem Innenminister Thomas de Maizière in der Flüchtlingspolitik den Stuhl vor die Tür gesetzt. Bleibt nur die Frage: Weil er seine Sache nicht gut gemacht hat? Oder weil er ihr als Flüchtlingsmanager mit harter Hand schon sehr bald hätte gefährlich werden können? Die Kanzlerin ist isoliert: In Europa, wo nach Tschechien, Polen, Ungarn und dem Baltikum jetzt auch Spanien, Großbritannien, Dänemark, Holland, Portugal, Slowenien und Kroatien gegen ihren Kurs rebellieren. In der Union, wo Mandatsträger Brandbriefe verfassen, CSU-Chef Seehofer Breitseite um Breitseite auf Merkel abfeuert und sich keine Hand mehr zur Verteidigung der Kanzlerin rührt. Und jetzt sogar in der eigenen Regierung."
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bewertet die Neuregelung gegenteilig und meint: "Umstürzend war auch das nicht, schon gar nicht eine Entmachtung Thomas de Maizières, wie es sogleich hieß. Vielmehr tut das Kanzleramt, wozu es da sei, und bekommt das Innenministerium, was es wollte: mehr Macht, klare Verantwortlichkeiten. Wenn so die Entmachtung eines Ministers aussieht, wollen Minister gerne 'entmachtet' werden.
Das Straubinger Tagblatt zeigt sich zurückhaltend in der Bewertung und blickt mit Skepsis auf den zu erwartenden Nutzen der Zuständigkeitsänderung: "Wunder wird allerdings auch der als zupackend und pragmatisch geltende Altmaier nicht vollbringen können. Weder wird er dazu in der Lage sein, den Flüchtlingsstrom einzudämmen, noch werden sich von heute auf morgen die langen Bearbeitungszeiten von Asylanträgen verkürzen. Und auch die notwendigen Wohnungen für die Flüchtlinge werden nicht von heute auf morgen plötzlich verfügbar sein. Dennoch geht von der Entscheidung, Altmaier zum Gesamtkoordinator zu ernennen, ein klares Signal aus: Flüchtlingspolitik ist künftig Chefsache.
Ähnlich argumentiert die Schwäbische Zeitung aus Ravensburg und sieht Merkel in der Pflicht, die Zivilgesellschaft indirekt zu Engagement anzuhalten: "Deutschland war unzulänglich vorbereitet auf die Flüchtlinge. Die Schuldzuweisung wurde jetzt dezent vorgenommen. Innenminister de Maizière wurde degradiert, Peter Altmaier ist ihm übergeordnet. Doch auch Altmaier kann das Blatt nicht von heute auf morgen wenden. Nach der ersten Welle der großen Hilfsbereitschaft im Land droht jetzt die zweite Welle der Skepsis und auch des Unmuts. Oft sind es gerade die Helfer, die ernüchtert sind. Innenpolitisch aber muss Merkel die Bevölkerung überzeugen. Das schafft sie nicht, wenn sie weiter beschönigt. Nach wie vor reagiert die Bundesregierung zu verhalten auf Nachfragen, wie viele Flüchtlinge unterwegs sind, wie viele Familiennachzügler zu erwarten sind. Man muss möglichst viele Fakten kennen, um sich gut vorbereiten zu können."
Die Welt stellt die Entscheidungen stärker in den Kontext der Krise innerhalb der Union und meint: "Noch nie ist Merkel aus den eigenen Reihen ein derart lautes 'So nicht' entgegengeschleudert worden. Die Bundeskanzlerin hat etliche Kurswechsel hinter sich. Nie hat sie sie erklärt. Oft auch deswegen nicht, weil sie - siehe 'Energiewende' - vernünftig nicht zu erklären waren. Diese voluntaristische Stärke der zweiten Frau im Staate ist letztlich eine Schwäche. Gerade in der Flüchtlingsfrage, in der eine Umwertung herkömmlicher CDU-Werte stattfindet, wäre es nicht das Schlechteste, wenn Merkel entschieden erklärseliger würde."
Die Main-Post geht stärker auf den Brief aus den Reihen der CDU ein und verlangt von Merkel, diesen ernst zu nehmen: "Die 34 revoltierenden CDU-Brandbriefschreiber verlangen von Merkel wörtlich, dass 'Sie persönlich über Zeitungsanzeigen in den Hauptherkunftsländern sowie über soziale Netzwerke verbreiten' solle, dass 'nicht politisch verfolgte Flüchtlinge kein Recht haben, nach Deutschland zu kommen'. Jetzt sitzt Merkel in der Zwickmühle. Sendet sie das Signal, gesteht sie ein, dass ihre große Willkommensgeste ein politischer Fehler war. Tut sie's nicht, wird der politische Druck weiter zunehmen."
Die Zeit hingegen warnt davor, dem sogenannten Brandbrief große Bedeutung zuzusprechen und schreibt "Deutschland leidet in der Flüchtlingsfrage unter galoppierendem Realitätsverlust, die Illusionen sind zahlreicher geworden, als sie es im Sommer je waren. Und sie haben ihre Farbe gewechselt, sie tragen jetzt Schwarz: Die Angst davor, dass der Zustrom von jährlich einer Million zu 80 Millionen Deutschland überfordern könnte, bekommt mehr und mehr panische Züge, entsprechend schießen wirklichkeitsfremde Abgrenzungswünsche ins Kraut, Gewaltfantasien gegen Flüchtlinge machen sich breit. Und unter der falschen Fahne der 'Realpolitik' wird im Mittleren Osten wieder mehr in Illusionen investiert und mit Bomben außenpolitischer Voodoo betrieben."
Zusammengestellt von Anne Pollmann
Quelle: ntv.de