Hessen Gewalt gegen Obdachlose steigt – hohe Dunkelziffer vermutet
22.09.2025, 04:03 Uhr
Warum werden Obdachlose Opfer von körperlichen Angriffen? Eine Expertin sieht gesellschaftliche Vorurteile als zentralen Grund. Und die Gewalt fängt nicht erst bei Tritten oder Schlägen an.
Wiesbaden (dpa/lhe) - Es muss nicht immer die offen sichtbare Gewalt sein wie Schläge oder Tritte: Obdachlose in Hessen sind vielfältigen Angriffen ausgesetzt. "Die Gewalt fängt viel früher an - mit beleidigenden Worten, wenn im Vorbeigehen einfach mal der Becher umgetreten wird oder jemand über den Schlafsack läuft", sagt die Expertin Katharina Alborea von der Diakonie Hessen. Sie sagt auch: "Gewalt gegen Obdachlose ist ein großes Problem."
Nach Angaben des Innenministeriums ist die Zahl registrierter körperlicher Attacken gegen Obdachlose zuletzt gestiegen. Demnach wurden 2022 bis 2024 jährlich zwischen 86 und 104 Gewalttaten bei der Polizei aktenkundig. In den vorangegangenen sieben Jahren waren es noch zwischen 28 (2016) und 73 (2020) Angriffe, wie aus der Antwort des Ministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der AfD-Landtagsfraktion hervorgeht.
Überwiegend Körperverletzungen - aber auch Mord und Totschlag
"Die Landesregierung nimmt die Entwicklung ernst", heißt es in der Antwort. Trotz des Anstiegs bewege sich die Anzahl der schwer verletzten Opfer weiterhin im niedrigen einstelligen Bereich. Den Angaben zufolge handelt es sich bei der überwiegenden Zahl der registrierten Fälle in den Jahren 2015 bis 2024 um einfache Körperverletzungen. Es sind jedoch auch vereinzelt Totschlag oder Mord darunter.
"Gewalt gegen Obdachlose wird nicht toleriert, und alle verfügbaren Mittel werden ausgeschöpft, um solche Straftaten zu verhindern beziehungsweise aufzuklären", erläutert das Ministerium. Die Polizei ermittele unabhängig vom sozialen Status der Opfer.
Obdachlose haben oft kein Vertrauen in die Polizei
Expertin Alborea geht nach eigenen Worten bei Straftaten gegen Obdachlose von einer hohen Dunkelziffer aus. "Unter vielen Obdachlosen wird die Polizei nicht als Freund und Helfer erlebt und deswegen werden Straftaten seltener anzeigt." Viele Menschen, die auf der Straße leben, seien auf gewisse Weise abgestumpft, ergänzt die Expertin. "Sie gewöhnen sich an Dinge, wo jemand anders sagen würde, das ist ja fürchterlich. Das ist für diese Menschen Alltag."
Für manche Menschen sind Obdachlose ein willkommenes Opfer
Die Attacken gegen Obdachlose haben für Alborea etwas mit der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung zu tun. In Teilen herrsche die Meinung vor, Obdachlose seien nichts wert, um die kümmere sich ohnehin keiner, sagt sie. Wenn dann manche Menschen frustriert seien, sich ungerecht behandelt fühlten oder einen schlechten Tag hätten, griffen manche die vermeintlich Schwächeren an. "Obdachlose können dann ein willkommenes Opfer sein, an dem man sich abarbeiten kann", erklärt die Expertin.
Nach ihren Worten gibt es eine Stimmung, dass finanziell Schwache im Prinzip "selbst schuld seien an ihrem Elend und anderen theoretisch dadurch auf der Tasche liegen". "Diese Stimmung trägt sehr viel dazu bei, dass man die Menschen nicht sieht als jemand, der ein beschissenes Leben hat und der sich auch andere Dinge wünscht, als im Zelt an der Autobahnböschung zu leben", sagt die frühere Sozialarbeiterin und fordert: "Die Stimmung in der Gesellschaft muss eine andere werden. Es muss klar sein, das Obdachlose kein Freiwild sind. Das sind Menschen wie Du und ich."
Expertin: In Notunterkünften fehlt es an Unterstützung
In Hessen sind nach Zahlen der Diakonie rund 29.000 Menschen in kommunalen Notunterkünften untergebracht. Die Städte und Gemeinden sind gesetzlich verpflichtet, jedem ein Dach über dem Kopf zu bieten, der wohnungslos ist. "Je nachdem, wie diese Unterkünfte geführt werden, kann dort Gewalt ein Problem sein", sagt Alborea. In vielen Notunterkünften gebe es keine soziale Unterstützung, die Menschen lebten auf engem Raum zusammen und würden mit ihren Problemen allein gelassen. Manche Obdachlose schliefen aus Angst lieber draußen als in solchen Häusern.
Einer aktuellen Studie zufolge gibt es zudem ungefähr 1.700 Menschen in Hessen, die auf der Straße leben und ungefähr 1.900 verdeckt Wohnungslose, ergänzt Alborea. Dies sind Menschen ohne eigenen vier Wände, die mal auf der Straße oder bei Freunden schlafen, aber auch bei flüchtigen Bekanntschaften Unterschlupf fänden. "Diese Gruppe ist ganz speziell von Gewalt betroffen, weil sie oft in solchen Übernachtungsverhältnissen in eine Abhängigkeit geraten und Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt sind."
Quelle: dpa