Der Leidensweg zur WM Löw lacht nicht mit
01.06.2010, 12:01 Uhr
Das ist nicht lustig: Bundestrainer Joachim Löw.
(Foto: REUTERS)
Gegen Ungarn läuft die letzte Spielminute, Heiko Westermann verletzt sich und verpasst die Fußball-Weltmeisterschaft. Er ist nicht der erste deutsche Ausfall, aber hoffentlich der letzte. Eine Chronologie der Schmerzen.
4. Mai 2010: Zwei Tage vor der Nominierung des vorläufigen Kaders sagt Simon Rolfes, im Mittelfeld als Sechser gesetzt, seine WM-Teilnahme ab. Der Leverkusener traut seinem Körper nach einem Knorpelschaden im Knie eine Weltmeisterschaft noch nicht zu.
Nach Rolfes erklärt am Nachmittag auch Torhüter René Adler seinen Verzicht. Er muss erneut an der Rippe operiert werden. Ein Ausfall, der schwer wiegt. Schließlich hatte ihn Bundestrainer Joachim Löw nach einem monatelangen Auswahlverfahren zur Nummer eins erklärt. Allerdings: Die anderen sind auch nicht schlecht.
6. Mai 2010: Bundestrainer Joachim Löw gibt seinen vorläufigen Kader benannt. Unter den 27 Nominierten sind keine echten Überraschungen, aber viele oft junge Spieler mit wenig Länderspielerfahrung: Manuel Neuer, Tim Wiese, Jörg Butt, Dennis Aogo, Jerome Boateng, Holger Badstuber, Andreas Beck, Marko Marin, Mesut Özil, Sami Khedira, Christian Träsch, Toni Kroos, Thomas Müller, Cacau und Stefan Kießling kommen zusammen auf 37 Länderspiele.
Für Adler rückt der Münchner Keeper Jörg Butt ins Nationalteam. Wer die Nummer eins wird, bleibt offen. Fest steht: Vier Spieler muss Löw bis zum 1. Juni streichen. Dann endet die Nominierungsfrist des Weltverbandes Fifa für den 23-Mann-Kader. Fest steht laut Löw auch: Von den sechs Stürmern im Kader fahren alle mit. Die Quoten für Beck, Badstuber und Trochowski als WM-Fahrer sind im Keller.
12. Mai 2010: Bundestrainer Löw startet auf Sizilien mit 15 WM-Kandidaten und vier Perspektivspielern die WM-Vorbereitung. Die elf Spieler der Pokalfinalisten FC Bayern und Werder Bremen fehlen noch, Kapitän Michael Ballack ebenfalls.
13. Mai 2010: Das erste Testspiel gegen das Malteser Hilfswerk müsste mit 10:0 enden, am Ende steht aber nur ein 3:0. Der Stuttgarter Cacau erzielt einen Doppelpack, der dritte Treffer ist ein Eigentor. Stefan Kießling hat viele Chancen, schießt aber kein Tor. Anschließend versucht er einen Scherz: "Bis auf meine vergebenen Chancen habe ich ganz gut gespielt." Joachim Löw lacht nicht mit.
15. Mai 2010: Im Finale um den DFB-Pokal demoralisiert der FC Bayern die vier Bremer WM-Starter. Torwart Tim Wiese, Anwärter auf den Stammplatz im WM-Tor und zu allem bereit ("Kämpfe, bis mir Blut aus den Ohren tropft"), kassiert vier Tore. In England trifft Michael Ballack mit Chelsea auf den FC Portsmouth mit Kevin-Prince Boateng. Der tritt dem DFB-Kapitän in Halbzeit eins auf den Knöchel und aus dem Spiel. Die ärztlichen Bulletins sind zunächst widersprüchlich. Fußball-Deutschland bangt.
16. Mai 2010: Noch keine Entwarnung bei Ballack nach Boatengs "brutalem Foul" (Löw). Die geplante Kernspintomographie kann nicht stattfinden, der Knöchel der Nation ist zu stark geschwollen. Fußball-Deutschland bangt weiter.
17. Mai 2010: Um 11.37 Uhr stürzt der Sport-Informations-Dienst ganz Deutschland per Eilmeldung in "unendliche Trauer", wie DFB-Präsident Theo Zwanziger mit dem ihm eigenen Verzicht auf übertriebenes Pathos später sagen wird. 26 Wörter reichen: "Nach Angaben des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) fällt Kapitän Michael Ballack aufgrund eines Innenbandrisses und Teilrisses der Syndesmose im rechten Sprunggelenk für die WM in Südafrika aus." Am Abend klärt ein ARD-Brennpunkt die Schuldfrage (Boateng, Absicht) und lädt den nicht ins Nationalteam geladenen Torsten Frings noch einmal offiziell aus. Zuvor schließt Bundestrainer Löw unter Verweis auf die polyvalenten Spieler in seinem Kader Nachnominierungen aus. Ballack erklärt: "Ich bin sauer, ganz klar."
18. Mai 2010: Im Trainingslager auf Sizilien, wo er im Kreis der nun führungslosen Kollegen sein WM-Aus verarbeitet hat, appelliert Ballack: "Schwarz darf man jetzt nicht sehen. Unser Team wird eine gute WM spielen."
22. Mai 2010: Der "fest überzeugte" Ballack reist aus dem Trainingslager in Sizilien ab, Richtung Mallorca. Dort erwartet ihn Thomas Gottschalk zu "Wetten dass …?!?". Dort zerstört Ballack alle Hoffnungen auf einen Aprilscherz im Mai: "Wenn ein Band gerissen ist, muss man sich der Natur eben beugen. Dann gibt es keine Chance."
Später am Abend lassen es die sieben nominierten Bayern im Champions-League-Finale ruhig angehen. Sie verlieren zwar gegen Inter Mailand mit 0:2, bleiben aber unverletzt. Im DFB-Trainingslager freut man sich derweil auf Bundeskanzlerin Merkel, die den Nationalkickern demnächst einen Motivationsbesuch abstatten will. Co-Trainer Hansi Flick flötet: "Es ist für uns eine große Ehre, wenn uns die Kanzlerin besucht. Wir sind alle sehr stolz, dass sich Angela Merkel angekündigt hat."
23. Mai 2010: Joachim Löw teilt mit, dass die Kapitäns- und Torwartfrage entschieden sind. Wie er sich entschieden hat, bleibt sein Geheimnis. Die Quoten auf Capitano Lahm und Nummer eins Neuer sind im Keller.
Zweifel an der Leistungsfähigkeit von Lukas Podolski wischt Löw derweil im Handstreich beseite: "Lukas wird bei der WM explodieren. Er hat viel Dynamik und viel Drang zum Tor." Die Worte sind Balsam auf die geschundene deutsche Fußballseele. Theo Zwanziger weint an diesem Abend vor Glück beim Einschlafen.
24. Mai: Die deutsche Nationalmannschaft wechselt das Quartier. Von Sizilien geht es nach Eppan in Südtirol, dort verkündet Oliver Bierhoff eine Weltneuheit: Das Trainingslager ist komplett gesponsert. Applaus bleibt aus.
Am Abend steht ein Testspiel gegen den italienischen Drittligisten FC Südtirol an. Stefan Kießling bleibt ohne Tor, Deutschland gewinnt trotzdem mit 4:0 – und verliert Christian Träsch. Der polyvalente Stuttgarter, als alternativer Ballack im zentralen Mittelfeld oder als Rechtsverteidiger vorgesehen, knickt ohne gegnerische Einwirkung an der Seitenlinie um. Fußball-Deutschland runzelt die Stirn, als der DFB erst Träschs WM-Aus verkündet und die eigene Meldung wenig später dementiert.
25. Mai 2010: Vier der sieben Bayern treffen im Trainingslager ein, Christian Träsch reist ab. Seine schwere Kapsel- und Bandverletzung in Knöchel bedeutet doch das WM-Aus. "Damit sind wir genug gestraft", glaubt Löws Assistent Hansi Flick. Nachnominierungen schließt er auch nach dem erneuten Trauerfall aus: "Wir sind als Trainerteam für Gedanken-Strategien bekannt. Wir haben einen Plan." Fußball-Deutschland kratzt sich am Kopf.
26. Mai 2010: Die restlichen Bayern sind wie erwartet da, die Dopingkontrolleure der Nada unerwartet auch und Thomas Müller fällt vom Fahrrad. Das Knie ist geprellt, das Kinn aufgeplatzt. Gefährdet ist der WM-Start laut DFB nicht. Fußball-Deutschland betet für Müller und rätselt über Mario Gomez: Muss der Münchner vielleicht auch ohne Verletzung vorzeitig nach Hause? Die Löw'sche Stürmergarantiezeit scheint schon abgelaufen.
27. Mai 2010: Die "Bild"-Zeitung meldet exklusiv, dass Philipp Lahm der neue Kapitän und Manuel Neuer Deutschlands WM-Torwart wird. Offiziell werde Joachim Löw die Entscheidung vor dem Länderspiel am 30. Mai gegen Ungarn bekanntgeben. Joachim Löw, der der "Bild"-Zeitung seit März freundschaftlich verbunden ist, lässt dazu exklusiv ausrichten: Noch nichts entschieden, alles nur Spekulation, öffentliche Bekanntgabe am Freitag, also einen Tag vor dem Ungarn-Spiel. Wenn er sich danach fühlt.
Am Abend bestreitet die DFB-Elf ein Testspiel gegen eine regionale U20-Auswahl, bei Stefan Kießling platzt der Knoten, endlich. Zwei der 24 Tore gehen auf das Konto des Leverkuseners. Sein Problem: Die anderen Problemstürmer Mario Gomez und Miroslav Klose schießen jeweils fünf Tore.
28. Mai 2010: Joachim Löw lädt zur Pressekonferenz, die Fußball-Welt hält den Atem an – und erfährt im netten Plauderton, womit niemand rechnen konnte: Philipp Lahm wird WM-Kapitän, Manuel Neuer WM-Torwart.
29. Mai 2010: Der letzte Test vor der Nominierung des endgültigen WM-Kaders steht an, in Ungarn. Heiko Westermann, eine von drei verbliebenen Alternativen für die Sechs hinter Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira, darf sich als Linksverteidiger empfehlen. In der letzten Aktion des Spiels klärt er beim Stand von 3:0 gegen einen forschen Ungarn in höchster Not, anschließend sinkt er schmerzverzerrt zu Boden. Fußball-Deutschland guckt Grand Prix.
30. Mai 2010: Just als Fußball-Deutschland um 18.15 Uhr wieder aus dem Lena-Meyer-Landrut-Rausch erwacht, jagt der SID diesen Flash über den Ticker: "Westermann fällt für die WM aus, in Ungarn hat er sich das Kahnbein im linken Fuß gebrochen." Fußball-Deutschland ist sofort sternhagelnüchtern. Joachim Löw schockiert Werbepartner Nivea mit der Aussage: "Da werden die Sorgenfalten natürlich noch größer."
31. Mai 2010: Auch das noch! Während Joachim Löw am 20. Tag der WM-Vorbereitung erstmals den verbliebenen Kader komplett zum Training bitten kann, reagiert Bundespräsident Horst Köhler so auf Kritik, wie es sich Fußball-Deutschland von DFB-Boss Theo Zwanziger wünschen würde. Köhler tritt zurück und vermasselt der DFB-Elf den Besuch von Kanzlerin Merkel. Jenen Besuch, der das Team vor der WM 2006 bis ins Halbfinale gepusht hatte. Fußball-Deutschland zuckt mit den Achseln und hofft, dass neben Andreas Beck auch Stefan Kießling aus dem WM-Kader gestrichen wird – und der Dortmunder Mats Hummels nachrückt. Denn Fußball-Deutschland weiß: Hummels ist polyvalent, kann als Sechser oder in der Innenverteidigung spielen. Also fordert Fußball-Deutschland Hummels, muss aber warten: Joachim Löw kündigt an, sich nicht vor Ablauf der Nominierungsfrist am 1. Juni um 24 Uhr zu Personalfragen zu äußern.
Tim Wiese wartet auch. Auf eine persönliche Begründung von Joachim Löw, warum er hinter Manuel Neuer als Nummer zwei zur WM fahren muss. Die Quoten, dass Tim Wiese doch noch einen ausgedehnten Sommerurlaub machen kann, steigen.
Und sonst? Fortsetzung folgt. Am Donnerstag spielt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ab 20.30 Uhr im letzten WM-Test gegen Bosnien. Generalprobe sozusagen. Und wenn die schief geht, wird ja bekanntlich alles gut.
Quelle: ntv.de