Sport

Para-Schwimmerin über Depression "Hab unterschätzt, wie lang der Weg sein wird"

Zum dritten Mal schwimmt Schwarz Anfang September in Paris für Deutschland bei den Paralympischen Spielen. Auch in London 2012 und in Rio de Janeiro 2016 war sie dabei.

Zum dritten Mal schwimmt Schwarz Anfang September in Paris für Deutschland bei den Paralympischen Spielen. Auch in London 2012 und in Rio de Janeiro 2016 war sie dabei.

(Foto: Uli Gasper / DBS)

Kurz vor den Paralympics in Tokio zieht die sehbehinderte, deutsche Schwimmerin Naomi Maike Schwarz die Notbremse. Wegen Depressionen sagt sie ihre Teilnahme 2021 ab. Doch die 30-jährige Athletin des SC Potsdam kämpft sich Schritt für Schritt zurück. Ab dem 2. September startet Schwarz bei den Paralympics 2024 in Paris. Im Interview mit ntv.de spricht sie über ihre Ängste, ihre Ziele und ihren Weg zurück zum Schwimmen.

ntv.de: In wenigen Tagen starten Sie bei den Paralympischen Spielen in Paris. Die Teilnahme an den letzten Paralympischen Spielen 2021 in Tokio, ihrem Geburtsland Japan, haben Sie wegen Depressionen abgesagt. Was ist damals passiert?

Naomi Maike Schwarz: Als ich 2021 die Teilnahme an den Paralympischen Spielen in Tokio abgesagt habe, war das für mich keine Entscheidung, die ich bewusst treffen konnte. Einige sprechen davon, dass ich mich dazu entschieden habe, als hätte ich die Entscheidung in irgendeiner Form in der Hand gehabt. Aber so war es für mich nicht. Mir ging es damals sehr schlecht. Ich hatte Probleme, aus dem Bett aufzustehen. Für mich war der Punkt erreicht, an dem ich an Hochleistung im Leistungssport nicht mehr denken konnte. Es ging einfach nicht mehr.

Warum?

Ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch und mache mir selbst viel Druck. Ich brauchte noch nie einen Trainer am Beckenrand, der mich anschreit oder anmeckert, dass ich mich anstrengen soll. Im Gegenteil. Mich müssen meine Trainer immer eher zurückhalten. Ich schieße gerne auch schon einmal über das Ziel hinaus. Das, was 2021 an die Oberfläche gespült wurde, hatte ich vorher schon Jahre lang in mir angestaut. Ich war schon vor meinem Zusammenbruch 2021 drei Jahre in Therapie. Nach meinem Zusammenbruch dachte ich, ich gehe in die Klinik, ich lasse mir helfen, ich rapple mich wieder auf und dann geht es weiter. Dass daraus eine jahrelange Reise werden würde, habe ich unterschätzt.

Sie reden offen über Ihre Depression. Wie haben Sie gelernt, mit dieser Krankheit umzugehen?

Die Krankheit begleitet mich weiterhin. Das ist eine große Herausforderung. An einigen Stellen kämpfe ich noch immer.

Inwiefern?

Früher konnte ich mit dem Leistungsdruck - vor allem auch dem Druck, den ich mir selbst mache - relativ gut umgehen. Ich war zwar gestresst, aber spätestens auf dem Startblock kam bei mir das Gefühl der Vorfreude auf den Wettkampf auf. Ich wusste, jetzt geht es los, jetzt geht es einfach nur darum, das abzurufen, wofür ich vorher gearbeitet habe. Es hat mich nicht in Panik versetzt. Heute bin ich schon mit kleinen Situationen im Alltag überfordert. Wenn zum Beispiel eine Freundin spontan ein Treffen um eine Stunde nach hinten verschiebt. Und heute löst der Leistungsdruck eher Panik und Ängste aus, als dass er mich in irgendeiner Form positiv pusht - auch auf dem Startblock.

Was machen Sie, um diese Gefühle zu überwinden?

Ich versuche mich jeden Tag an all die Hürden zu erinnern, die ich nehmen musste. Gleichzeitig versuche ich diesen Weg in Relation zu meiner Leistung zu setzen.

Und dieser Weg führte Sie erfolgreich zurück in den Leistungssport.

Ich habe in den letzten drei Jahren immer mal wieder versucht, ein Mini-Comeback zu starten. Ich habe versucht, ins Training zurückzufinden. Ich habe mir gesagt, es geht wieder. Da habe ich oft einen auf die Nase bekommen. Es war ein Prozess. Ich habe mich ausprobiert. Einen Schritt zurückgehen, warten, dann wieder anfangen, weiter daran arbeiten, wieder ausprobieren, wieder einen Schritt zurückgehen, so ging das die vergangenen Jahre. Ich habe unterschätzt, wie lang dieser Weg sein wird. Ich komme langsam wieder an den Punkt, an dem mir der Leistungssport wieder Spaß macht.

Wie gehen Spaß und Leistung zusammen?

Rat und Nothilfe bei Suizid-Gefahr und Depressionen
  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33

  • Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Bei der Deutschen Depressionshilfe sind regionale Krisendienste und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
  • In der Deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige. Dort gibt es auch eine E-Mail-Beratung für Depressive.
  • Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).

Für mich geht das eine nicht ohne das andere. Ich wäre nicht so erfolgreich in meiner Karriere gewesen, wenn ich keinen Spaß am Schwimmen hätte. Aber ich habe etliche Tage, an denen mich Müdigkeit, Nervosität oder der Druck quälen. Dann stelle ich mir manchmal die Frage, warum ich mir das antue. Aber am Ende des Tages ist Schwimmen trotz aller Quälerei das, was ich immer machen wollte.

Wie sind Sie zum Schwimmen gekommen?

Ich komme aus einer sportlichen Familie. Meine Eltern schwammen beide im Verein. Als ich geboren wurde, unterrichteten meine Eltern an der Deutschen Schule Tokio-Yokohama in Japan. Und bevor ich laufen konnte, bin ich schon in unseren Pool gesprungen. Meine Eltern hatten Angst, dass ich untergehe. Deshalb haben sie mich dann schnell zum Babyschwimmen und später zum Kinderschwimmen geschickt. Auch als meine Familie zurück nach Deutschland kam, habe ich nie aufgehört zu schwimmen. Und dann kamen die ersten Erfolge. Mit sechs Jahren hatte ich dann meinen ersten Wettkampf. Ich war gut darin. Es hat mir Spaß gemacht. Und dann bin ich im Alter von zehn Jahren an der Zapfen-Stäbchen-Dystrophie erkrankt und habe binnen weniger Wochen meine Sehfähigkeit verloren. Danach musste ich noch einmal komplett neu schwimmen lernen.

Wie haben Sie das geschafft?

Jeder Mensch, der schwimmen kann, weiß, dass Schwimmen ein visueller Sport ist, bei dem die Augen an allen Ecken und Enden gebraucht werden - vor allem, um sich im Wasser zu orientieren. Beispielsweise fuchtelt ein Trainer wild am Becken herum, um der schwimmenden Person Dinge zu zeigen. Dafür musste ich andere Lösungswege finden.

Welche?

Mein Trainer hat gelernt mir nicht mehr visuell, sondern sprachlich zu vermitteln, was ich machen sollte. Oder ich bin immer mit einer Person in einer Gruppe geschwommen, die mir Ansagen gemacht hat. Ich habe gelernt, Züge zu zählen. Es hat eine Weile gedauert, bis mein Körper schwimmen wieder neu gelernt hat. Ich musste mich auf mein Gefühl verlassen.

Sie haben sich also schon einmal zurück zum Leistungssport gekämpft.

Ja. Ich sage immer, es war Glück im Unglück, dass ich mir den Schwimmsport ausgesucht habe. Denn andere Sportarten wie Volleyball wären deutlich schwieriger gewesen, wieder zu erlernen. 2007 besuchte ich mit meinem Vater zum ersten Mal einen Schwimmwettkampf des Deutschen Behindertensportverbands. Damals war die Para-Welt noch nicht so bekannt, auch weil sie medial nicht präsent war. Ich war fasziniert von der Para-Welt, aber auch überfordert.

Was genau hat Sie überfordert?

Ich musste erst einmal lernen zu akzeptieren, dass es nun einmal so ist, wie es ist. Dass meine Krankheit höchstwahrscheinlich nicht weggehen wird und vermutlich sogar noch schlimmer werden würde. Aber für mich war schnell klar, ich will weiter schwimmen, nur auf eine andere Art und Weise. Auch, wenn ich damals im ersten Moment nicht so begeistert war, bin ich heute unfassbar dankbar. Para-Schwimmen hat mir viele Türen geöffnet und mir sehr viel gegeben, wovon ich nur hätte träumen können.

In diesem Jahr haben Sie bei den Schwimmeuropameisterschaften im April in Funchal erfolgreich ihr Comeback gefeiert. Über 100 Meter Rücken und 100 Meter Freistil holten Sie den 4. Platz. Mit 1:15,27 Minuten über 100 Meter Rücken schwammen Sie deutschen Rekord. Wie geht es Ihnen nach Ihrem Comeback?

Ich hatte unterschätzt, was die Rückkehr in die Welt des Leistungssports, auch die Wettkampf-Atmosphäre, mit mir machen würde. Ich hatte mental damit zu kämpfen. Es ist Teil der Erkrankung, dass ich schnell überfordert bin. Das ist eine Ausnahmesituation und ich musste lernen wieder damit umzugehen. Deshalb habe ich auch ein bisschen Bammel vor Paris. Aber ich habe aus den Erfahrungen der EM gelernt und weiter an mir gearbeitet.

Was haben Sie dazugelernt?

Ich habe mir gezielt psychologische Hilfe geholt, bei der ich mich mit meinen Therapeutinnen kombiniert um die Depressionen und um den Umgang mit dem Leistungsdruck im Sport kümmere. Es fällt mir schwer, da eine Balance zu finden. Ich bin dankbar, dass die EM so gelaufen ist, weil sie mir gezeigt hat, woran ich noch arbeiten muss.

Aber die Generalprobe muss doch schiefgehen, damit die Show gut wird. Die EM war für Sie also eine gelungene Generalprobe für die Paralympischen Spiele?

Ja. Es war eine gute Generalprobe. Ich schwanke gerade zwischen der Sorge und der Vorfreude auf Paris. Ich will das Event in vollen Zügen genießen und alles in mich aufsaugen. Ich hoffe, mir die mentale Stärke erarbeitet zu haben, die mir hilft, Panik oder Überforderung im Wettkampf zu überwinden.

Wie laufen die Vorbereitungen?

Ich habe keine runde Vorbereitung, so wie sie im Buche steht, für die Paralympischen Spiele durchlaufen können. Es war viel improvisiert. Ich habe mich mit meinem Trainer oft spontan an die jeweilige Situation und individuelle Tagesform angepasst. Auch meine Therapie habe ich immer wieder dahingehend umgestellt. Ich habe noch keinen perfekten Weg gefunden. Ich bin in dem Modus, jeden Tag zu nehmen, wie er kommt. Am Ende des Tages versuche ich das Beste daraus zu machen.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich freue mich auf das gesamte Erlebnis. Ich habe die Spiele 2012 in London und die Spiele 2016 in Rio als spektakuläre Ereignisse in Erinnerung. Für zwei Wochen kann und darf ich im Paralympischen Dorf in eine komplett andere Welt abtauchen. Wir sind dort mit so vielen Menschen aus verschiedenen Sportarten zusammen. Dort begegne ich Menschen, die genau das Gleiche empfinden wie ich, die genauso gekämpft haben für ihre Teilnahme wie ich. Das ist schon etwas ganz Besonderes.

Bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 gewann Schwarz über 50 Meter Freistil Silber.

Bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 gewann Schwarz über 50 Meter Freistil Silber.

(Foto: Uli Gasper / DBS)

Was sind Ihre Ziele?

Ich versuche immer noch auseinanderklamüsern, was mein Ziel ist. Ich freue mich sehr, dabei sein zu können. Dabei sein ist alles, war auch in Rio schon mein Motto. Damals habe ich schon damit spekuliert, im Medaillenbereich mitzuschwimmen, aber es hätte nicht unbedingt eine Medaille werden müssen. Und dann habe ich über 50 Meter Freistil Silber gewonnen. Für Paris versuche ich meine Ziele weniger an Zeiten oder Platzierungen festzumachen, weil ich meine Leistung nicht so richtig einschätzen kann. Ich bin wie eine kleine Wundertüte, für jede Überraschung zu haben.

Was kommt Ihnen in den Kopf, wenn Sie jetzt an Paris denken?

Ich freue mich sehr darüber, dass mein Mann und auch meine Familie und Freunde mit dabei sein werden. Zwölf Menschen fahren mit mir nach Paris. Ich habe also mein eigenes, kleines Support-System vor Ort. Das gibt mir Rückhalt. Ich weiß, egal, wie ich mich fühle, ich brauche nur hoch auf die Tribüne zu gehen, und es empfangen mich zwölf Paar Arme und spenden mir Trost und umsorgen mich. Das setzt mich aber auch ein bisschen unter Druck. Ich bin Sportlerin und ich möchte performen.

Wenige Tage vor Ihrem Wettkampf hat ihr Ehemann Carl-Louis Schwarz, der ebenfalls Schwimmer war, Geburtstag. Feiern Sie den Geburtstag im Becken?

Wir sehen uns leider nicht, da ich an seinem Geburtstag bereits in Paris sein werde. Er kommt wenige Tage später aber hinterher. Sein Geburtstag ist auch unser Hochzeitstag. Dieses Jahr feiern wir vierjähriges Jubiläum. Es ist schade, dass wir uns an dem Tag nicht sehen. Aber wir holen das nach.

Haben Sie schon etwas geplant?

Wir haben nach meinem Wettkampf noch ein paar Tage zusammen in Paris, an denen wir durch die Straßen schlendern können und es uns als Paar in der Stadt der Liebe gut gehen lassen. Nach Paris schnappen wir uns unseren Hund Jumper und den Camper meiner Eltern und düsen in Richtung Skandinavien. Wir fahren durch Norwegen und machen uns zu dritt eine schöne Zeit, um die wilde Reise der vergangenen drei Jahre sacken zu lassen.

Mit Naomi Maike Schwarz sprach Rebecca Wegmann

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen