EM-Finaldrama im Schnellcheck Auf den Popp-Schock folgen Brutalität und Tränen

Tränen bei Popp nach dem verlorenen EM-Finale.

Tränen bei Popp nach dem verlorenen EM-Finale.

(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)

Die Engländerinnen besiegen den Wembley-Fluch - doch für das deutsche Team bleibt nach einem unfassbaren Kampf zunächst nur die schmerzhafte Brutalität des Fußballs. Es fließen bittere Tränen, es tut "schweineweh" - aber morgen wird alles besser.

Was ist im altehrwürdigen Wembley-Stadion passiert?

Der erste Wembley-Schock erfolgte schon vor dem Spiel: Wenige Minuten vor dem EM-Finale zwischen Deutschland und England fiel die so treffsichere Stürmerin Alexandra Popp wegen muskulärer Probleme aus, die sie sich wohl beim Warmmachen zugezogen hatte. TV-Bilder zeigten, wie die Anführerin nach einem Torschuss vor dem Spiel das Gesicht schmerzverzerrt verzog.

Wie bitter für die Kapitänin und die Nationalelf. Die frisch gebackene deutsche Fußballerin des Jahres, Lea Schüller (in der Wahl hatte sie Popp ausgestochen), ersetzte Popp in der Startelf. Svenja Huth führte die deutschen Fußballerinnen stattdessen mit der Binde aufs Feld - vor den Augen von 87.192 Fans - unter ihnen Prinz William und Bundeskanzler Olaf Scholz.

Ein Spiel zwischen Nationalteams aus Deutschland und England ist immer ein Klassiker. Einen Tag nach dem 56. Jahrestag des legendären Wembley-Tores im WM-Finale der Männer 1966 samt anschließendem Fluch (kein Titel für die Nation England seitdem) erst recht. So überboten sich die englischen Zeitungen auch mit Superlativen. "Bring it home", bringt den EM-Titel nach Hause, titelten sie. Ein Sieg gegen "den alten Rivalen" sollte unbedingt her. Die Dominanz der deutschen Fußballerinnen in den vergangenen Jahren nannten die Lionesses dann auch passenderweise "fairy tales", Märchen. Was sollte es werden: Der neunte EM-Titel für die Deutschen oder der Sieg über den Fluch für die Engländerinnen?

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg erkannte vor dem Spiel: "Es ist ein Privileg, hier spielen zu dürfen. Wir wollen bei uns bleiben und uns bis zuletzt wehren, um das Spiel zu gewinnen." Bis auf den Popp-Wechsel stellte sie ihre Erfolgself deshalb auch nicht um. Nicht mitwirken konnte Klara Bühl. Die Flügelspielerin durfte nach ihrer überstandenen Corona-Infektion zwar ins Stadion, jedoch nur auf die Tribüne. Für sie startete wieder die 19-jährige Jule Brand.

Und was wurde es für ein Finale. Welch Kampf, welch Drama zeigten beide Teams. In einem extrem physischen und teilweise ob des Drucks auch zerfahrenen Spiel sahen die Zuschauerinnen und Zuschauer zwei verschiedene Halbzeiten. Anfangs dominierten die Engländerinnen, nach der Pause die Deutschen. Dem traumhaft herausgespielten Führungstor der Lionesses ließen die DFB-Frauen einen ebenso schönen Ausgleich folgen.

In einer dramatischen Verlängerung, in der beide Teams bis zum Umfallen kämpften, besiegte die englische Elf schließlich doch den Wembley-Fluch: Chloe Kelly stocherte in der 110. Minute den Ball irgendwie über die Linie. Brutal für die Deutschen: Das Tor fiel nach einer Ecke, ansonsten ging für die Engländerinnen kaum noch was. Das Spiel war gelaufen, die englischen Frauen schafften das, was die Männer seit 1966 immer wieder versuchten.

Statt grenzenlosem Jubel gab es auf Seiten der DFB-Frauen bittere Tränen. So grausam ist Fußball. Lena Oberdorf, die als beste Jungspielerin des Turniers ausgezeichnet wurde, wusste gar nicht wohin mit sich und ihren Emotionen. Auch Popp weinte. "Es tut gerade einfach nur schweineweh, als Verlierer den Platz zu verlassen", sagte Huth.

Wenngleich der Schmerz kurz nach der Pleite immer tief sitzt, werden die Fußballerinnen in den nächsten Tagen erkennen, wie stolz sie auf sich sein können. Was sie in den Turnierwochen geschafft haben: Grandiosen Fußball zu spielen, ein ganzes Land zu begeistern - und wichtige Entwicklungen in Richtung Gleichberechtigung voranzutreiben.

Schema

England: Earps - Bronze, Bright, Williamson, Daly ab 89. Greenwood - Stanway ab 89. Scott, Walsh - Mead ab 64. Kelly, Kirby ab 56. Toone, Hemp ab 119. Parris - White ab 56. Russo. - Trainerin: Wiegman

Deutschland: Frohms/VfL Wolfsburg (27 Jahre/33 Länderspiele) - Gwinn/Bayern München (23/33), Hendrich/VfL Wolfsburg (30/52), Hegering/VfL Wolfsburg (32/26) ab 103. Doorsoun/Eintracht Frankfurt (30/39), Rauch/VfL Wolfsburg (26/26) ab 113. Lattwein/VfL Wolfsburg (22/22) - Magull/Bayern München (27/65) ab 91. Dallmann/Bayern München (27/51), Oberdorf/VfL Wolfsburg (20/32), Däbritz/Olympique Lyon (27/92) ab 73. Lohmann/Bayern München (22/16) - Huth/VfL Wolfsburg (31/72), Schüller/Bayern München (24/41) ab 67. Anyomi/Eintracht Frankfurt (22/10) , Brand/VfL Wolfsburg (19/22) ab 46. Waßmuth/VfL Wolfsburg (25/19). - Trainerin: Voss-Tecklenburg

Schiedsrichterin: Kateryna Monzul (Ukraine)
Tore: 1:0 Toone (62.), 1:1 Magull (79.), 2:1 Kelly (110.)
Zuschauer: 87.192 (ausverkauft in London/Wembley)

Das Final-Drama im Spielfilm

4. Minute: Es ist ein intensiver Beginn im Wembley, einen ersten Kopfball von White kann Frohms im deutschen Tor aber locker entschärfen.

6. Minute: England erhöht den Druck: Eine missglückte Flanke der Lionesses sorgt für Gefahr auf der deutschen Torlinie. Im Anschluss checkt White auch noch Keeperin Frohms weg.

9. Minute: Mead setzt sich links gegen Gwinn durch, tänzelt auf der Torauslinie, aber ihr Schuss verpufft - und dann wird auch noch Abseits gepfiffen.

10. Minute: Jetzt mal die DFB-Elf: Däbritz wird von Huth bedient und zieht mit ihrem starken linken Fuß ab. Der Schuss, der gen linkes Toreck segelt, wird aber geblockt.

19. Minute: Nach ein paar Minuten Mittelfeld-Kampf kommen die Engländerinnen in Person von Bronze zu einem Kopfball. Frohms hält wieder sicher.

25. Minute: Deutsche Offensivbemühungen finden kaum statt. Brand holt mit einem Lauf zur Grundlinie mal eine Ecke heraus ... und diese führt fast zum 1:0! Eine Kopfballverlängerung kann erst Mead auf der Linie klären, dann greift Torhüterin Earps zu. Die beste Chance im Spiel bislang! Nach einem VAR-Check wegen eines möglichen Handspiels geht es weiter, aber es hätte durchaus Elfmeter für Deutschland geben können.

37. Minute: Die Engländerinnen kommen nicht in ihren Power-Fußball hinein, weil das deutsche Team defensiv sehr wach und aggressiv spielt.

38. Minute: Große Chance für die Lionesses, die über rechts in den Rücken der deutschen Abwehr spielen. Dort kommt White herangerauscht, schießt aber knapp über das Tor. Das war mal die englische Power, die so schwer zu stoppen ist. Wieder ist es aber Abseits.

Halbzeit

48. Minute: Bright verschätzt sich und die eingewechselte Waßmuth läuft auf einmal von links alleine aufs englische Tor zu. Ihr Schuss ist aber zu zentral und zu schwach. Da war mehr drin!

50. Minute: Magull mit der Pike! Nächste starke Szene des DFB-Teams kurz nach der Pause, aber die deutsche Angreiferin zielt knapp neben den linken Pfosten.

62. Minute: Toooooooooor für England, 1:0 Toone.

England steht zu zehnt auf dem Platz. Aber Walsh ist das völlig egal. Sie spielt einen Mega-Pass über den halben Platz zentimetergenau auf die durchstartende Toone. Die Stürmerin bleibt vor Frohms extrem cool und chippt den Ball über die Torhüterin ins lange Eck. Das Wembley-Stadion bebt!

66. Minute: Fast der direkte Gegenschlag der DFB-Frauen! Magull hämmert einen Schuss aus elf Metern an den rechten Pfosten. Der Abpraller landet bei Schüller, aber ihr Nachschuss geht direkt auf die englische Keeperin.

75. Minute: Magull passt auf Gwinn, die direkt scharf nach innen flankt. Dort springt die eingewechselte Lohmann heran und verpasst den Ball nur knapp.

79. Minute: Toooooooooooooooooooooooooor für Deutschland, 1:1 Magull.

Der späte Ausgleich: Hendrich läuft erst hinten ganz stark einen englischen Konter ab und leitet dann direkt mit einem beherzten Sprint nach vorne den Gegenangriff ein. Über Lohmann bekommt Waßmuth den Ball, die direkt auf die im Fünfmeterraum startende Magull durchsteckt. Die emsige Mittelfeldspielerin hält instinktiv ihren Fuß hin und netzt gekonnt ein. Verdient!

90. Minute: Das Spiel ist jetzt auf des Messers Schneide, die Spannung ist spürbar. Kein Team will den entscheidenden Fehler begehen.

Ende der regulären Spielzeit - Verlängerung

101. Minute: Die deutsche Elf ist stärker in den ersten 15. Minuten, die es als Extra gibt. Wirkliche Chancen wollen aber noch nicht dabei herausspringen. Es geht immer ruppiger zu.

108. Minute: Fernschuss der Engländerinnen - und Torhüterin Frohms klärt den Ball mit dem Fuß locker nach außen, als hätte es sich um einen Rückpass gehandelt. Muss man in einem EM-Finale gut zwölf Minuten vor Schluss auch erstmal so machen!

110. Minute: Tooooooooooooooooor für England, 2:1 Kelly.

Natürlich ein Standard: Nach einer Ecke blockt Kelly im Fünfmeterraum sich und dem Ball rustikal den Weg frei. Frohms sieht die Kugel nicht kommen und kann nur abtropfen lassen. Mit der Pike stochert Kelly den Ball dann irgendwie über die Linie. Ekstase pur bei England, Frust auf Seite der Deutschen. So brutal ist Fußball!

Abpfiff - England ist Europameister

Was war gut?

Die deutsche Elf schaffte es auf starke Art und Weise zurückzugekommen nach dem Rückstand. Und das auf der größten aller Bühnen, gegen ein ganzes Stadion voller frenetischer Engländerinnen und Engländer. Nach dem 0:1 steckten die Spielerinnen nicht den Kopf in den Sand, sondern drängten sofort auf den Ausgleich, der folgerichtig kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit noch fiel.

Überhaupt steckte das Team den so dramatischen Ausfall der Anführerin Popp gut weg und ließ sich nicht von knapp 90.000 Fans einschüchtern. Egal, welche Spielerin auf dem Platz stand, egal, wer eingewechselt wurde: 100 Prozent Leidenschaft und Einsatz waren stets erkennbar. Das ist auch ein Kompliment an Bundestrainerin Voss-Tecklenburg. Sie stellte ihre Frauen optimal ein und schien auch in der Halbzeit eine starke Ansprache gehalten zu haben.

Was auch mal wieder gut war: die deutsche Defensive, die so oft entscheidend ist in einem Finale. Ob Hegering oder Hendrich, Top-Torjägerin Mead wurde kein Meter geschenkt. Die Engländerinnen kamen nur äußerst selten in ihren Power-Fußball hinein, weil das deutsche Team defensiv sehr wach und aggressiv spielte. Die DFB-Elf nervte die Lionesses und raubte ihnen den Spaß. Die Folge waren viele lange Bälle, die, bis auf das 1:0, einfach zu verteidigen waren.

Am Ende entschied, wie so oft in einem Endspiel, ein Standard die Partie. In einem Duell auf Augenhöhe, es wurde um jeden Zentimeter gekämpft, ragten vor allem Oberdorf und Magull mit ihren spielstarken, aggressiven und emsigen Leistungen heraus.

Was war schlecht?

"Was wäre gewesen, wenn...", werden sich viele deutsche Fans fragen. Hätte das DFB-Team mit Popp gewonnen? Die Kapitänin, die in Wembley (dort hatte sie noch nie verloren) ihr 120. Länderspiel bestreiten wollte, fehlte dem deutschen Angriff von Anfang an. Ohne die Stürmerin gab es zu wenig Anspielmöglichkeiten, Ersatz Schüller hat schlichtweg nicht die gleiche Physis und Präsenz. Dadurch brachten auch die Flanken des deutschen Teams kaum Gefahr, es war schlichtweg keine Abnehmerin im Strafraum. Die DFB-Elf schaffte es auch nur bedingt, ihr Spiel umzustellen, nachdem sie erkannte, dass ohne Popp eine andere Spielweise hergemusst hätte.

Im Endeffekt pennten die Deutschen einmal zu viel - und das auch noch in Überzahl. Beim 1:0 der Engländerinnen setzten die DFB-Fußballerinnen die ballführende Walsh überhaupt nicht unter Druck. Hinten verschätzte sich dann die sonst stets so sichere Hegering. Auch das Umschaltspiel funktionierte nicht optimal, weil die Engländerinnen sehr schnell auf den Beinen und immer wieder mit vielen Spielerinnen hinter dem Ball waren. Bei der entscheidenden Ecke in der Verlängerung kann man niemandem einen Vorwurf machen, so brutal, so grausam ist Fußball eben manchmal.

Und wie war's im Stadion, Anja Rau?

Zunächst eine kurze Frage: Kann man einen Tinnitus eigentlich als Arbeitsunfall anerkennen lassen? Der Abpfiff wurde mit der Verlängerung herausgezögert, doch als Kataryna Monzul nach mehr als 120 Minuten in die Pfeife blies, rastete das Stadion kollektiv aus. Wer nach der Nationalhymne gedacht hatte, es könnte nicht lauter werden, wurde nach dem 1:0 eines besseren belehrt, wurde nach dem 2:1 eines besseren belehrt - und erst recht nach Abpfiff. Auf unbändiges Siegesgeschrei folgte "Football's coming home" und "Sweet Caroline", mitgegrölt von der überwiegenden Mehrzahl der 87.192 Fans.

Viel gibt es über den Mythos Wembley-Stadion zu lesen, doch auf das Erlebnis kann man sich kaum vorbereiten. Es ist schier umwerfend. Die Wucht von Wembley trifft einen schon im leeren Zustand. Gänsehaut, offen stehender Mund, Fotos sind Pflicht. Doch mit feierwütigen Heimfans, die den ersten Titel für die englischen Fußballerinnen herbeisehnen und den ersten englischen Fußballtitel seit der Männer-WM 1966 - mehr ist in einem Fußballstadion wohl nicht möglich an Stimmung. Es ist massiver Gegenwind für die Deutschen, die meisten Fans tragen weiß, garniert mit dem roten Kreuz der englischen Flagge. Sie brüllen "England, England" und sparen auch nicht mit Buhrufen, die durch das riesige Stadion hallen.

Die deutschen Fans auf den Tribünen ziehen das durch mit den Fähnchen, das Schwarz-Rot-Gold fällt also trotzdem auf bei einem Spiel, das in die Geschichtsbücher eingeht. Nie waren mehr Zuschauerinnen und Zuschauer bei einem EM-Finale, egal ob bei den Männern oder Frauen. Der bisherige Bestwert liegt bei 79.115 Fans, die das Finale der EM 1964 in Madrid besucht hatten. Dieses Spiel ist der frenetische Abschluss eines Turniers, das alle Grenzen im Fußball der Frauen gesprengt hat.

Quelle: ntv.de

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