Für Ittrich eine "tausendprozentige Gelbe Karte".
(Foto: AP)
19 Schiedsrichter und ihre Teams sind bei der Fußball-Europameisterschaft im Einsatz. Mit Daniel Siebert und Felix Zwayer kommen zwei aus Deutschland. Nach 32 Vorrundenspielen sagt Patrick Ittrich: "Im Zusammenspiel mit dem VAR ist es bisher eine gute EM für die Schiedsrichter. Es ist doch positiv, dass sie kein großes Thema sind." Der Bundesliga-Schiedsrichter ist während der Fußball-Europameisterschaft als Experte für MagentaTV im Einsatz. In einer Medienrunde ist er auf die nun abgeschlossene Vorrunde des Turniers eingegangen. Was er von der Anti-Mecker-Regel hält und wieso die EM nicht mit der Bundesliga zu vergleichen ist.
Das DFB-Spiel gegen die Schweiz
Die Folgen aus dem dritten Gruppenspiel gegen die Schweiz sind aus deutscher Sicht deutlich: Langes Bangen, ob das DFB-Team nur Zweiter der Gruppe werden würde, dann die späte Erlösung durch Niclas Füllkrug. Das 1:1 brachte den Gruppensieg. Aber auch die Sperre im Achtelfinale für Jonathan Tah. An all dem war Schiedsrichter Daniele Orsato aus Italien beteiligt. Bundestrainer Julian Nagelsmann haderte nach der Partie mit dem Unparteiischen: Dieser habe "keine richtig klare Linie" gehabt.
Patrick Ittrich stimmt da teilweise zu: "Julian Nagelsmann hat vielleicht nicht ganz Unrecht, dass er sagt, er hatte keine Linie", so der Bundesliga-Schiedsrichter, der zugleich aber einschränkt: "Aber er hat völlig falsche Situationen benannt." Orsato habe manches anders bewertet, als er es getan hätte. Es sei grundsätzlich völlig legitim, als Trainer oder Spieler Kritik am Schiedsrichter zu äußern, so Ittrich: "Aber man muss dann auch die richtigen Situationen nennen." Denn in den für Nagelsmann strittigen Szenen sei alles in Ordnung gewesen.
Zunächst hatte Orsato den Führungstreffer von Robert Andrich in der 17. Minute aberkannt, weil Jamal Musiala zuvor den Schweizer Michel Aebischer am Bein getroffen hatte - ein Foul in der Tor-Entstehung, entschied Orsato. Nagelsmann war damit nicht einverstanden: "Ich finde, dass man das laufen lassen kann. Der Kontakt kommt klar nach einem kontrollierten Ball. Jamal hat das Bein nicht gestreckt. Ich finde nicht, dass man das abpfeifen muss." Ittrich sagte dagegen bereits während des Spiels: "Das ist eine korrekte Zurücknahme des Tores. Musiala hat einen relativen klaren Treffer beim Sprunggelenk gelandet."
Einen Zweikampf, bei dem Einwechselspieler Maximilian Beier dagegen im Strafraum von Silvan Widmer mit beiden Armen umklammert wird (71.), hatte Orsato nicht geahndet. Auch das war für Nagelsmann eine diskussionswürdige Entscheidung: "In meinen Augen ist es schon ein Elfmeter", begründete er, weil Widmer einen freien Schuss verhindert habe. Da es jedoch keine "klare Fehlentscheidung" gewesen sei, sei hier "alles in Ordnung". Ittrich hatte Orsato bereits während der Szene den Rücken gestärkt. Das wiederum hatte ntv.de-Experte Ewald Lienen in seinem Podcast "Der Sechzehner" auf die Palme gebracht: "Wie kann Patrick auf die Idee kommen, dann zu sagen: 'Dafür gibt es heute nichts'? Das ist lächerlich, es tut mir leid."
Letzter Diskussionspunkt ist die Gelbe Karte für Tah, die Nagelsmann zum Umbau seiner Innenverteidigung zwingt. "Ich fand die Gelbe Karte hart! Der Jona ist vor ihm am Ball und ein bisschen aggressiver im Zweikampf. Es ist vielleicht gefährliches Spiel, weiß ich nicht", so der 36-Jährige. Tah war auf Höhe der Mittellinie in einem Luftduell mit Breel Embolo mit hohem Bein von hinten in den Schweizer gesprungen. Über diese Gelbe Karte könne es keine zwei Meinungen geben, so Ittrich. Es sei eine "tausendprozentige Gelbe Karte". "Er springt mit den Beinen oben hin. Wenn er ihn mit dem Fuß im Gesicht streift, musst du über Rot nachdenken. Also es ist für mich einfach eine Gelbe Karte und fertig."
Die Anti-Mecker-Regel
"Gefühlt hätte ich mir das schon vor 15 Jahren gewünscht. Ich hoffe, dass man sich darauf einigt, dass das auch in der Bundesliga eingeführt wird. Ich finde das gut, wenn alle eine klare Konsequenz ihres Verhaltens kennen", sagt Ittrich zur Einführung der Regel, dass nur noch die Kapitäne mit dem Schiedsrichter reden dürfen. Er wolle selbstredend nicht jeden ohne gewichtigen Grund verwarnen. Joshua Kimmich hatte vor der EM befürchtet, dass es Karten hageln könnte und den Spielern so sehr schnell eine Sperre droht. Ittrich hält nun dagegen: "Ich habe noch keine zweite Gelbe Karte gesehen, die durch diese Regel entstanden ist."
Er betont: "Wenn ein Spieler gefoult wird und er Schmerzen hat, habe ich als Schiedsrichter kein Problem damit, eine gewisse Emotion auszuhalten. Es geht darum, dass der auf mich zugerannt kommt und mir was erzählen will." In einem Zweikampf gebe es ohnehin schon zwei Beteiligte, den Gefoulten und den Verursacher, dann schreitet der Schiedsrichter als dritte Person ein und es gibt noch die beiden Kapitäne, zeichnet Ittrich das Bild auf dem Platz. "Wenn das alles sachlich zugeht, dann verwarnst du keinen. Es geht dann um den Sechsten, der angelaufen kommt, und der Meinung ist, er muss mir erzählen, warum ich jetzt einen falschen Pfiff gesetzt habe."
Der bisherige Turnierverlauf zeigt, dass Rudelbildungen - mit Ausnahme des 20-Karten-Spiels Türkei gegen Tschechien - ausbleiben. Der DFB prüft nun, ob die UEFA-Regel auch in den deutschen Ligen zur Anwendung kommt. "Die Frage, ob und inwieweit die UEFA-Anweisung künftig auch im deutschen Profifußball zum Tragen kommen soll und wird, besprechen wir intensiv auch gemeinsam mit der DFL und den Zuständigen im DFB für den Spielbetrieb in der 3. Liga und dem DFB-Pokal", heißt es vom DFB.
Verändert die Ruhe die Netto-Spielzeit?
Weil also weniger gemeckert, diskutiert und gerudelt wird, wird mehr gespielt? In der Tat ist die Netto-Spielzeit bei dieser EM laut Ittrich höher als in der Bundesliga. "Wir haben in der Bundesliga über 56 Minuten, in der Champions League haben wir 60 Minuten Spielzeit, und wir kommen da Richtung Champions League ran." Die offizielle UEFA-Statistik weist im Schnitt 59:17 Minuten pro Spiel aus, in denen der Ball im Spiel ist. Dass dafür aber einzig die Anti-Mecker-Regel ausschlaggebend ist, will der Schiedsrichter nicht gelten lassen. "Die meiste Auswirkung auf die Netto-Spielzeit haben Abstoß, Einwurf, Eckstoß, Freistoß." Da würden sich die Spieler teilweise sehr viel Zeit lassen.
Für Torhüter ist bekanntlich festgelegt, wie lange sie den Ball vor dem Abschlag halten dürfen - inzwischen sind es laut den Regelhütern vom International Football Association Boards (IFAB) acht statt früher sechs Sekunden. Doch Schiedsrichter setzen das nicht konsequent durch, für Ittrich aus gutem Grund: Die Spielfortsetzung verlange dann einen indirekten Freistoß im Strafraum für den Gegner. Das ist eine drastische Sanktion. Ittrich macht das Szenario auf, es würde 0:0 beim Spiel zwischen dem FC Bayern und dem BVB stehen und er würde nach neun Sekunden pfeifen: "Dann schießen sie mich da aus der Arena raus, da habe ich keinen Bock drauf."
Eine Erkenntnis der EM ist derweil auch, dass die Nachspielzeiten deutlich kürzer sind als bei der WM 2022, als es regelmäßig einen vielminütigen Nachschlag zur zweiten Halbzeit gab. Laut UEFA sind es während der 36 Vorrundenspiele im Schnitt 98:09 Minuten Spielzeit inklusive der Nachspielzeiten der ersten und zweiten Hälfte gewesen. Das längste Spiel der WM 2022 in Katar - England gegen Iran - wurde um 24 Minuten verlängert.
EM nicht mit der Bundesliga vergleichbar
In der Bundesliga wird regelmäßig über die Video-Schiedsrichter gemeckert, während der EM bleibt die Empörung dagegen bis auf wenige Ausnahmen gering. Die Männer im Kölner Keller - nein, während des Turniers ist es das Leipziger Erdgeschoss - arbeiten schnell und zuverlässig. So zumindest das Gefühl. Ittrich nimmt hier aber auch die Kollegen der deutschen Liga in Schutz: "Dass es in der Bundesliga schlechter läuft, stimmt eigentlich gar nicht." Vielmehr liege es vor allem an den vielen Experten, die in Leipzig im Einsatz sind.
Achtelfinale
Samstag, 29. Juni 2024:
Schweiz - Italien in Berlin (18 Uhr/RTL und MagentaTV**)
Deutschland - Dänemark in Dortmund (21 Uhr/ZDF und MagentaTV**)
Sonntag, 30. Juni 2024:
England - Slowakei in Gelsenkirchen (18 Uhr/ZDF und MagentaTV**)
Spanien - Georgien in Köln (21 Uhr/ARD und MagentaTV**)
Montag, 1. Juli 2024:
Frankreich - Belgien in Düsseldorf (18 Uhr/ZDF und MagentaTV**)
Portugal - Slowenien in Frankfurt (21 Uhr/ARD und MagentaTV**)
Dienstag, 2. Juli 2024:
Rumänien - Niederlande in München (18 Uhr/ARD und MagentaTV**)
Österreich - Türkei in Leipzig (21 Uhr/MagentaTV**)
Viertelfinale
Freitag, 5. Juli 2024:
ESP/GEO - GER/DEN in Stuttgart (18 Uhr/*)
POR/SLO - FRA/BEL in Hamburg (21 Uhr/*)
Samstag, 6. Juli 2024:
ENG/SVK - SUI/ITA in Düsseldorf (18 Uhr/*)
ROU/NED - AUT/TUR in Berlin (21 Uhr/*)
Halbfinale
Dienstag, 9. Juli 2024:
Sieger Viertelfinale 1 - Sieger Viertelfinale 2 in München (21 Uhr/ARD oder ZDF und MagentaTV**)
Mittwoch, 10. Juli 2024:
Sieger Viertelfinale 3 - Sieger Viertelfinale 4 in Dortmund (21 Uhr/ARD oder ZDF und MagentaTV**)
Finale
Sonntag, 14. Juli 2024:
Sieger Halbfinale 1 - Sieger Halbfinale 2 in Berlin (21 Uhr/ARD und MagentaTV**)
* Im Viertelfinale werden die Spiele kurzfristig zwischen ARD, ZDF und RTL aufgeteilt. MagentaTV überträgt alle Spiele.
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Pro Spiel sind ein Video-Assistent, ein Assistent des Video-Assistenten, ein Abseits-Checker sowie eine Person, die im Notfall eingreifen kann, im Einsatz. Ittrich erklärt: "Ich sitze da, gucke mir eine Szene an, dann gibt es einen Strafstoß. Ja oder nein? Das Spiel läuft weiter. Dann muss sich der Video-Assistent die Wiederholung dieses möglichen Strafstoßes angucken und sein Assistent verfolgt das Hauptbild weiter, weil ja etwas passieren kann."
Sogenannte "Silent Checks", die unbemerkt für Spiel und Fans im Hintergrund laufen, können mit mehr Personal schneller abgehandelt werden. Zudem wird bei der EM die halbautomatische Abseitserkennung eingesetzt, die es - wohl aus Kostengründen - in der Bundesliga bislang nicht gibt. Diese technische Hilfe macht die Entscheidungsfindung ebenfalls schneller.
Allerdings hakt es beim Thema Schnelligkeit in dem Moment, wenn es um eine "Ermessensentscheidung" geht, so Ittrich. Als Beispiel nennt er das aberkannte Tor der Niederlande gegen Frankreich. Denzel Dumfries stand im Fünfmeterraum neben Torhüter Mike Maignan, nicht direkt im Sichtfeld, aber aktiv im Abseits, dass der Torwart unmöglich hätte nach dem Ball springen können. "Da musst du erstmal als Video-Assistent überlegen: 'Greift er wirklich ein? Behindert er den Torwart, steht er da in der Sichtlinie?' Das dauert natürlich."
Insgesamt zeigt der Vergleich mit der Bundesliga auch: "Wir hatten 17 Eingriffe nach 32 Spielen, das ist vom Schnitt her viel höher als in der Bundesliga. Aber alle sagen, es sei okay." Die meisten Zuschauer seien entspannter bei der EM als bei ihrem Lieblingsklub, argumentiert Ittrich. "Es liegt auch daran, dass uns oft die Emotionalität fehlt. Wenn man Slowenien gegen Serbien schaut, dann ist das was anderes als Dortmund gegen Bayern. Da nimmt man die Dinge einfach hin und regt sich nicht auf."
Wie geht es weiter mit dem VAR?
Im Schnitt gibt es also bislang in jedem zweiten EM-Spiel einen Eingriff der Video-Assistenten. Ist das zu viel, wo der VAR doch nur bei "eindeutigen Fehlentscheidungen" aktiv werden soll? Bedeutet dies, dass die Leistung der Schiedsrichter auf dem Platz nicht genügend ist? Ittrich verwehrt sich dieser Annahme. "Als Schiedsrichter möchtest du fehlerfrei aus dem Spiel rausgehen", betont er, sagt aber zugleich: "Ein Eingriff hat nichts mit der Qualität des Schiedsrichters zu tun."
Vielmehr sei der Spielverlauf mitentscheidend. Ist ein Spiel komplett ruhig, gibt es weniger strittige Szenen. Geht es hoch her, haben sich Spieler immer wieder in den Haaren, hat der Schiedsrichter mehr zu tun, "und da geht auch mal einer durch". Und auch sehr knappe Abseitsentscheidungen - Romelu Lukaku stand bei einem seiner drei zurückgenommenen Tore mit dem Zehennagel vor dem Gegner - zählen als Eingriff des VAR, gehen also auf das Konto der hohen Eingriffszahl.
Entsprechend hätte Ittrich kein Problem mit einer Ausweitung der VAR-Kompetenzen. "Damit hätte ich kein Problem. Die Frage ist nur, wo wir anfangen und wo wir aufhören." Er nennt als Beispiel einen Einwurf, der am eigenen Strafraum für das falsche Team gegeben wurde, der zum Tor führt. Oder: "Ich möchte eigentlich nicht irgendwas pfeifen, wo ich mir nicht tausendprozentig sicher bin. Das passiert trotzdem. Und dann hast du 17 Meter vor dem Tor einen Freistoß und gerade dann ist der sensationell und geht rein. Und ich bin der Doofmann der Nation." So erging es dem Spanier Jesus Gil Manzano im Spiel zwischen Frankreich und Österreich, als er Österreich eine Ecke verwehrte und kurz darauf das unglückliche Eigentor von Max Wöber zugunsten von Frankreich fiel, das über Sieg und Niederlage entschied.
Ohnehin ist bekanntermaßen häufig der Schiedsrichter schuld, wenn etwas nicht läuft. Lohnt es also, sich selbst häufiger am Spielfeldrand ein Bild zu machen, indem der Unparteiische die Videos anfordert? Davon hält Ittrich eher weniger: "Das initiiert man als Schiedsrichter, wenn man merkt, dass man dadurch Druck vom Kessel nimmt. Das kann man mal als Ausnahme machen, etwa wenn man in der 89. Minute merkt, hier bricht die Bude auseinander."
"Protokolllike" sei das aber nicht. Denn er müsse ja etwas vom VAR präsentiert bekommen, was etwas deutlich anderes zeigt als das, was er als Spielleiter entschieden habe. Wenn es diese Bilder aber nicht gibt, "ist es Zeitverschwendung". "Das ist, finde ich, ein Riesenproblem, das ich auch in der Diskussion ganz häufig mit Trainern und mit Spielern habe", so Ittrich. "Wann fangen wir dann an? Bei 70:30, 60:40 oder 80:20? Dann wird es irgendwann zur Willkür. Und das will kein Mensch."
Quelle: ntv.de
