Lehren aus der EM-Vorrunde (I) Ronaldo wütet, Rangnick rebelliert, DFB-Elf ist nicht zu fassen

Kommt aus dem Jubeln nicht mehr heraus: Ralf Rangnick.

Kommt aus dem Jubeln nicht mehr heraus: Ralf Rangnick.

(Foto: picture alliance/dpa/APA)

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft übersteht die EM-Vorrunde souverän, wird mit sieben Punkten Sieger der Gruppe. Aber zu was dieses Team in der Lage ist, das weiß noch niemand so recht. Noch größer sind aber die Fragezeichen bei England und Frankreich. Die beiden Topfavoriten lassen den eigenen Anhang verzweifeln. Ganz anders die Österreicher: Ralf Rangnick hat das Land der Skistars wachgeküsst. Gibt es gar die Sensation? Nach 36 von 51 Spielen gibt es viele Erkenntnisse. Wir blicken sportlich auf die Vorrunde zurück.

Wer war eigentlich gut bislang?

Die Österreicher! Durch die "Monstergruppe" mit Frankreich, den Niederlanden und Robert Lewandowskis Polen schlängelte sich die Mannschaft von Trainer Ralf Rangnick so kunstvoll durch, wie einst der große Marcel Hirscher zwischen den alpinen Slalomstangen. Die Männer und Frauen auf den Brettern sind gemeinhin die, die den größten Legendenstatus in der Alpenrepublik haben. Doch dank des deutschen Taktik-Professors, der sich für die Liebe im Schatten des Großglockners und gegen die Flirt-Versuche des FC Bayern entschieden hatte, hat sich das Land eine polyvalente Trittfestigkeit angeeignet. Nicht nur auf Schnee und Eis läuft es prächtig, auch der grüne Rasen ist mittlerweile dem Setzkasten hinzugefügt.

Beflügelt (kleiner Scherz) und ohne Scheu rennen die Männer in Rot-Weiß auf ihre Gegner zu, das Pressing folgt der Logik der Red-Bull-Schule, die Rangnick einst ja selbst begründet hat. Das rebellische Kollektiv arbeitet fleißig und kann sich immer wieder auf große Momente der Einzelspieler verlassen. Marcel Sabitzer ist in Top-Form, ebenso Rangnicks Musterschüler Christoph Baumgartner. Und auch Marko Arnautović, der Kapitän und große Held, hat noch einiges im Tank. Da geht noch was, zunächst im Achtelfinale gegen die Türkei. Und danach womöglich in einem zweiten EM-Duell mit den Niederlanden.

Noch ein bisschen besser, zumindest fußballerisch, sind die Spanier unterwegs. Das kommt aber weniger überraschend. Die Mannschaft ist gesegnet mit Talent. Nico Williams spielte das bislang ebenfalls noch nicht überzeugende Italien in Grund und Boden. Der Titelverteidiger tanzte in der Vorrunde bis zur letzten Sekunde am Abgrund. Lamine Yamal ließ die alten Kroaten noch älter aussehen, und das mit nicht einmal 17 Jahren. Unfassbar ist das, was das Mega-Talent des FC Barcelona mit Ball und Tempo veranstalten kann. Und mit einem Genie wie Rodri, dem Mittelfeldchef, im Rücken lässt es sich in Deutschland so schön stürmen und drängen wie einst zu Zeiten von Goethe.

Was ist mit den Deutschen? Waren die etwa nicht gut?

Tja, gute Frage. Mal ist die Welt weiß, mal ist die Welt schwarz. Toni Kroos gefällt das nicht, wie er gerade erst verraten hat. Nach dem Auftaktspiel gegen die so netten, aber fürchterlich schwachen Schotten war die DFB-Elf gefühlt schon Europameister. Nach der etwas ruckeligen Darbietung gegen Ungarn war die Euphorie immer noch groß, der Bundestrainer lobte die Widerstandskraft seiner Auswahl. Dann kam das Gruppenfinale gegen die Schweiz, das auf den letzten Metern noch gerettet wurde. Joker Niclas Füllkrug traf in der Nachspielzeit zum 1:1. Kroos war abgemeldet, Wirtz verkopft, die Abwehr gleich mehr überrumpelt. Ein Schuss vor den Bug zur rechten Zeit? Oder ein Alarmsignal? So richtig wollen sie im Lager des DFB vom zweiten Szenario nichts wissen. Der nächste Gegner, Dänemark, stammt aus dem mittleren Regal des europäischen Fußballs. Und genauso ist die Stimmung: Wird schon klappen. Die ganz große Euphorie hat einen kleinen Dämpfer bekommen. Im Hinterkopf grüßen die Debakel der Vergangenheit. Bislang hat die Mannschaft die bösen Geister mit ihrem beeindruckenden Willen leise gehalten.

Was ist denn nur mit England und Frankreich los?

Tja, schon wieder so eine gute Frage! Die englischen Fans werfen Bierbecher auf den Trainer, der sie zur Verzweiflung bringt. Warum eiert dieses Giganten-Ensemble so zurückhaltend über das Parkett und legt keinen feurigen Tango hin? Der Pragmatismus, wenn er denn einer ist, sorgt nicht nur in der Heimat der "Three Lions" für Fassungslosigkeit. Auch die Experten hierzulande können nicht wissen, warum die Mannschaft mit Spektakel-Fußballern wie Jude Bellingham oder Phil Foden so gebremst auftritt. Durchaus bizarr: Die Spieler selbst sehen zwar ein, dass sie es besser können. Aber besonders kritisch gehen sie mit den eigenen Leistungen nicht um. Gruppensieger, muss reichen. Ja, vielleicht muss man sich am Ende bei Southgate und Co. entschuldigen. Vielleicht dosiert das Team seine Kräfte und holt den Titel, so wie es von vielen vorhergesagt worden war. Gute Argumente dafür haben sie eigentlich nicht - außer, dass sie in diesem Turnier weiter ungeschlagen sind.

Das gilt auch für die Franzosen. Drei Spiele, zwei Tore, keines davon aus dem Feld erzielt. Ui, das klingt nach Krise! Und ja, ein bisschen ist es das auch. Im direkten Duell mit Österreich machte ein Eigentor den Unterschied, gegen die Niederlande gab's nix und gegen Polen einen Elfmeter, verwandelt von Kylian Mbappé. Das ist, war ja auch nicht anders zu erwarten, der Schlüsselspieler. So schnell, so trickreich, so abschlussstark - eigentlich. Die große Frage vor dem Turnier war, wer kann diesen Mann stoppen? Doch bislang braucht es dafür gar keine sonderlich ausgefallenen Antworten. Die Österreicher stellten ihr starkes Kollektiv dagegen, auch wenn etwa ntv.de-Experte Ewald Lienen verwundert darüber ist, dass der Superstar im Zentrum aufgestellt wird und selten über die Flügel kommt, wo er seine aberwitzige Geschwindigkeit besser ausspielen kann. Dann folgte der Bruch der Nase, ein Spiel Pause, und eine Wiedereingliederungsmaßnahme gegen die Polen. Springt der Motor von Mbappé nicht an, wird es für Frankreich schwer. Schon am Montag gegen Belgien und deren Wut-Coach Domenico Tedesco, der seine Roten Teufel auch noch nicht auf erhöhte Betriebstemperatur gebracht hat.

Wer hat denn noch Spaß gemacht?

Klar, die Schweizer verbreiten auf den Rängen und dem Rasen Freude. Sie sind laut (Fans) und schnell (Spieler). Die Türken feiern eine gigantische Party und lassen sich den Autokorso auch nach einem chancenlosen Kräftemessen mit Cristiano Ronaldo und Portugal nicht nehmen. Die Mannschaft spielt mit großer Leidenschaft und hat mit Arda Güler ein Ausnahme-Talent für große Momente. Dass es nun aber gegen Österreich geht, kann die Party in Rot schnell beenden. Über die Schotten braucht man nicht mehr viel zu sagen. Die Fans haben sich den Titel verdient, die Spieler verzweifelt gekämpft. Gleiches gilt für die Albaner. Super Support, ein großer Wille, aber sehr limitierte fußballerische Mittel.

Aber die ganz große EM-Bereicherung bislang ist Georgien. Dieses (weitgehende) No-Name-Kollektiv, mit der überragende Torwart-Krake Giorgi Mamardaschwili und dem schnellen und dribbelstarken Neapel-Stürmer Khvicha Kvaratskhelia. Über den Quali-Weg hätte die Mannschaft von Willy Sagnol niemals den Weg zur Endrunde gefunden. Einzig dem Erfolg in der Nations League war es zu verdanken, dass das Land zum Turnier-Debüt kam. Und wie sie die Bühne für sich nutzen (womöglich auch für Verträge bei großen Vereinen). Unerschrocken, trickreich und leidenschaftlich. Georgien-Spiele sind eine Reise in die Vergangenheit, als der Fußball noch wild und ungezügelt war. Der Showdown gegen die Türkei (1:3) war eine Liebeserklärung an das Spiel! Bitter: Im Achtelfinale warten die Spanier.

Apropos Vergangenheit? Wie schlagen sich die alten Helden?

Cristiano Ronaldo verzweifelt! So gerne würde er ein Tor schießen und damit den nächsten Rekord aufstellen. Er wäre dann der erste Fußballer, der bei sechs Europameisterschaften getroffen hat. Ein Problem: Der Superstar, der in der Wüste lebt und kickt, wird von seinen Mitspielern nicht mehr als erste und immer anzuspielende Option gesehen. Ganz zu seinem persönlichen Ärger, der von einem unsäglichen Flitzer-Irrsinn flankiert wird. Immer wieder zeigt er an, wo er Ball eigentlich hin muss. Er zeigt auf sich. Auch bei vermeintlichen Fouls, die die Schiedsrichter ihm nicht mehr geben wollen, anders als früher.

Einmal war er in diesem Turnier ganz nah dran am Tor, aber stand gegen die Türkei auf den Rekord zu gehen, legte er freistehend auf den noch freistehenderen Bruno Fernandes ab. Das Stadion tobte vor Glück. Ronaldo hatte Magie geschenkt, gegen seinen inneren Antrieb. Noch hat er ja mindestens eine Chance, weiter an seinem eh schon übergroßen Legendenstatus zu arbeiten.

Anders als sein langjähriger Weggefährte Luka Modrić. Der alte Meister spielte nach zwei schwachen Spielen zum Gruppenfinale groß auf, erlebte völlig verrückte 31 Sekunden. Wurde vom Elfmeter-Pechvogel direkt wieder zum Volkshelden, ehe sein Team gegen Italien in der 98. Minute doch noch kollabierte. Modrić war Sekunden zuvor gezeigt worden, wie er vor Aufregung an seinem Trikot kaute. Ein trauriger letzter Eindruck einer großen internationalen Karriere.

Wie der von Toni Kroos aussehen wird, ist dagegen noch unklar. Auch wenn er ist ein Wegbegleiter von Ronaldo und Modrić. Und der Schlüsselspieler im DFB-Team. Als er im März comebackte, raste Fußball-Deutschland aus der emotionalen Hölle in den siebten Himmel. Kroos verzauberte sie alle. Und wurde plötzlich entzaubert. Die Schweizer hatten Dirigent Kroos den Taktstock abgenommen. Und schon klemmte es im deutschen Spiel.

Was fiel sonst noch so auf?

In den Spielen der Vorrunde entwickelte sich ein Running Gag. Wer ist eigentlich dieser "Eigentor", der die Torschützenliste des Turniers anführt. Siebenmal landete der Ball im "falschen Tor". Und was waren das teilweise für feine Dinger! Antonio Rüdiger etwa hämmerte den Ball per Kopf an Manuel Neuer vorbei. Und auch der Österreicher Maximilian Wöber drehte den Kopf so gekonnt (unfreiwillig!) in eine Hereingabe, dass der Ball platziert und unhaltbar einschlug! Aber getoppt wurde alles vom türkischen Verteidiger Samet Akaydin. Der wähnte einen portugiesischen Angriff abgewehrt, der bisweilen seltsam wütende Cristiano Ronaldo war falsch abgebogen. Akaydin wollte für ein bisschen Ruhe sorgen und seinen Torwart anspielen. Der war aber nicht da, wo ihn der Abwehrmann vermutete und so trudelte der Ball vom Strafraum ins eigene Tor. Siebenmal also lief der Ball in die Irre, ist das eigentlich viel? Nun, bei der letzten EM standen am Ende elf Eigentore.

Quelle: ntv.de

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