Zweiter EM-Gegner der DFB-Elf Wieso Viktor Orbán und Ungarns Nationalelf eng verknüpft sind

Der ungarischen Nationalelf droht das Vorrundenaus bei der EM.

Der ungarischen Nationalelf droht das Vorrundenaus bei der EM.

(Foto: IMAGO/Xinhua)

Deutschlands zweiter Gruppengegner bei der Fußball-EM wird eine härtere Nuss als Schottland. Aber die Ungarn hadern mit einem verpatzten Auftakt, der weder Nationaltrainer Marco Rossi noch den Oberen in Budapest geschmeckt haben dürfte.

Marco Rossi war nach dem 1:3 gegen die Schweiz am ersten Gruppenspieltag so richtig bedient. "Ich bin keiner, der mit dem Finger auf andere zeigt. Ich bin der Trainer, also übernehme ich Verantwortung", sagte der 59-jährige Italiener, der seit 2018 die ungarische Nationalmannschaft betreut. Momentan kann es sich Rossi noch leisten, die Kritik auf seine Schultern zu packen und damit ein wenig von den eigenen Spielern abzulenken. Denn Rossi genießt im Land ein hohes Ansehen, hat er doch die Nationalelf zum zweiten Mal in Folge zu einem EM-Turnier geführt.

Vor der EM-Teilnahme 2016, damals noch unter Rossis Vor-Vorgänger Bernd Storck, waren die Ungarn letztmals in den Achtzigerjahren bei einem großen internationalen Turnier dabei gewesen. Zu jener Zeit regierte noch der greise János Kádár mit der sozialistischen USAP das Land, das nach 1989 wie weite Teile des europäischen Ostens eine Transformation vollzog, die auch so manchen politischen Taschenspieler auf die große Bühne brachte.

In Ungarn gab es jedoch über viele Jahre - abseits des politischen Treibens - immer eine große Konstante: nämlich das Nationalteam als Stolz nicht nur von Fußball-Ungarn, sondern von ganz großen Teilen des Landes. Das galt im Übrigen auch noch, als Ferenc Puskás und die goldene Generation von 1954 schon lange im fußballerischen Ruhestand waren. Allerdings konnte etwa die Spielerriege rund um die Bundesliga-Profis Gábor Király und Krisztián Lisztes oder die darauffolgende mit Tamás Hajnal und Zoltán Gera sehr wenig in den Qualifikationen für WM und EM ausrichten. Ungarn gehörte drei Jahrzehnte lang vor allem eine Nebenrolle.

Das Heil im Ausland suchen

Der neuerliche sportliche Aufschwung ist natürlich nicht ausschließlich das Verdienst von Rossi, wenngleich der Italiener doch ein gutes Stück dazu beigetragen hat, so viel wie möglich aus dem immer noch etwas überschaubaren Spielerpool zu holen. In seinem Heimatland konnte er sich nur wenig Renommee erarbeiten, weshalb Rossi einst nach einem gescheiterten Engagement in der drittklassigen Serie C den Schritt zu Honvéd Budapest wagte, was gewissermaßen den Weg für die Position als Nationaltrainer ebnete.

Zugleich wuchsen neue Spieler auf dem Feld heran, von denen manche ebenfalls den Schritt ins Ausland wagten. Im Fall von Dominik Szoboszlai oder Stürmer Barnabás Varga erfolgte eben dieser Schritt bereits im Jugendalter - Szoboszlai ging mit Unterstützung seines Vaters nach Salzburg, Varga zu Eberau und später Mattersburg. Man erhoffte sich in Österreich eine bessere Ausbildung, was natürlich weder im Nationalverband noch in anderen Schaltzentralen in Budapest gerne gehört wird.

Auch ein weiterer Faktor, der dem Nationalteam zuträglich war, dürfte umstritten sein: Ungarns aktueller Kader stützt sich zu einem gewissen Teil auf naturalisierte Spieler wie Willi Orbán, Milos Kerkez, Márton Dárdai, Loïc Nego und Callum Styles. Ganz ohne diese Injektion von außen wäre vielleicht der momentane Höhenflug nicht möglich.

Fußballer Orbán hat andere Sorgen

Im Budapester Burgviertel wiederum - oder genauer gesagt im Karmeliterkloster, wo Viktor Orbán seit 2010 zum zweiten Mal als Ministerpräsident das Sagen hat - wurden lange Zeit vorrangig jene Fußballer protegiert, die man als Vorzeige-Auswahlspieler betrachtete. Roland Sallai, der 2018 zum SC Freiburg kam, nachdem er zuvor seine ersten Schritte im Profifußball für die von Orbán unterstützte Puskás Akadémia unternahm, ist so einer, den auch der Ministerpräsident lange Zeit zu präferieren schien. Aber gerade an Szoboszlai ist aufgrund seines Durchbruchs in der Premier League in Diensten von Liverpool ohnehin kein Vorbeikommen mehr.

Und generell scheint Machthaber Orbán in diesen Tagen weniger am Fußball interessiert zu sein, als es noch vor ein paar Jahren der Fall war. Des Öfteren konnte man den Parteichef von Fidesz beim Kicken oder eben als enthusiastischen Fan auf der Haupttribüne beobachten. Fußball schien ein wichtiges Vehikel für den ehemaligen Spieler von FC Felcsút, dem Vorgängerverein von Puskás Akadémia, zu sein. Allerdings sitzt Fidesz nicht mehr so fest im Sattel wie einst. Bei den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament verbuchte die Allianz Fidesz-KDNP 44,8 Prozent im Vergleich zu 52,6 Prozent im Jahr 2019. Währenddessen hat TISZA unter Führung von Orbáns aktuell ärgstem Herausforderer Péter Magyar bei der ersten Teilnahme direkt 29,6 Prozent verbucht. Magyar ist ein Mitte-Rechts-Politiker, weshalb das Heraufbeschwören einer Gefahr von links in diesem Fall keine gangbare PR-Strategie für Orbán ist.

In jedem Fall hat der 61-Jährige gerade andere Sorgen als die Nationalmannschaft, welche noch bei der EM im Jahr 2021 leidenschaftlich vom Ministerpräsidenten wie auch vielen Anhängern, oftmals in schwarz gekleidet, unterstützt wurde. Damals hatten die Magyarok den Vorteil, dass sie zwei der drei Gruppenspiele in der heimischen Puskás Aréna in Budapest austragen konnten. Doch es sprangen insgesamt nur zwei Punkte heraus. Gegen Deutschland gab es zum Abschluss ein 2:2 in München - damals auch begleitet von der Debatte um ein geplantes Erstrahlen der Allianz Arena in Regenbogenfarben.

Mehr offensive Freiheiten als 2021

Rossi wurde nach der erfolglosen Kampagne in einer zugegebenermaßen Todesgruppe mit Deutschland, Portugal und Frankreich nicht vor die Tür gesetzt. Allerdings wich der Italiener nach und nach von seinem Defensivstil ab. Denn zu Beginn seiner Amtszeit setzte er dezidiert auf eine Fünferabwehr und ein kompaktes Mittelfeld sowie Konterattacken über Szoboszlai und dessen Offensivkollegen. Angesichts der steigenden Dichte an offensiven Talenten wollte Rossi diese Spieler jedoch weniger in ihrer Kreativität beschneiden. Mittlerweile spielt Ungarn eher wie der italienische Meister Inter Mailand und weniger wie ein Abstiegskandidat in der Serie A. Das heißt, man setzt weiterhin auf eine Fünferabwehr, lässt aber die Zügel ein wenig lockerer und gibt vor allem den Mittelfeldspielern und Stürmern viel mehr taktische Bewegungsfreiheit.

Zuweilen wird davon gesprochen, dass sich Rossi gar nicht mehr an dem über viele Jahre dominanten Positionsspiel orientiert, sondern viel mehr auf ein freischwebendes Ballbesitzspiel setzt, das in manchen Teilen der Fußballwelt en vogue ist. Damit geht einher, dass die Ungarn in der Vorwärtsbewegung versuchen, zueinander Kontakt zu halten und auf diese Weise ein funktionierendes Kombinationsspiel initiieren. Dreh- und Angelpunkt ist selbstverständlich Szoboszlai, der anders als in Diensten von Liverpool oder erst recht zuvor bei Rasenballsport Leipzig nahezu jede Aufgabe bei eigenem Ballbesitz übernimmt. Der 23-Jährige treibt von hinten mit an, weil die Sechser Ádám Nagy und András Schäfer nicht über die notwendige Passstärke verfügen. Szoboszlai geht aber im Laufe der Angriffe vorn mit rein, um von seiner Schussstärke Gebrauch zu machen und Sallai zu unterstützen.

Ob die Ungarn jedoch ihren neugefundenen Offensivgeist gegen Deutschland zeigen dürfen, bleibt abzuwarten. Im ersten Gruppenspiel schaffte es die Schweiz beim 3:1-Sieg der Nati regelmäßig die Ballbesitzversuche Ungarns zu negieren und die Defensive rund um den Leipziger Kapitän Willi Orbán mit ihrer eigenen positionellen Flexibilität vor erhebliche Probleme zu stellen. Sollte Ungarn nun zum zweiten Mal in Folge die Gruppenphase der EM nicht überstehen, wird ein ganz großer Aufschrei in den Machtzentralen von Budapest wohl ausbleiben. Aber den ehrgeizigen Rossi wie auch seinen Superstar Szoboszlai wird es trotzdem enorm ärgern. Denn in Ungarn möchte man gerne endlich wieder an frühere Zeiten anknüpfen.

Quelle: ntv.de

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