Nia Künzer im Interview "Frauen spielen den ehrlicheren Fußball"

Nia Künzer ist eine gefragte Expertin im Fußball.

Nia Künzer ist eine gefragte Expertin im Fußball.

(Foto: picture alliance / BEAUTIFUL SPORTS/Wunderl)

Vor genau 20 Jahren wurde Nia Künzer Fußball-Weltmeisterin, ihr Golden Goal entschied das Finale. Seitdem hat sich der Sport rasant entwickelt und erlebt seit vergangenem Sommer einen Hype in Deutschland. Wie die Ex-Nationalspielerin das wahrnimmt, was sie zu den Vergleichen mit dem Männer-Fußball sagt und warum sie behauptet, dass Frauen den besseren Fußball spielen, darüber spricht sie im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Frau Künzer, würden Sie lieber heute Fußball spielen als zu Ihrer Zeit in den 1990er- und 2000er-Jahren?

Nia Künzer: Ach, das weiß ich nicht. Ich blicke total positiv zurück auf meine Zeit und möchte sie überhaupt nicht missen. Klar, ich hätte gern zwei, drei Kreuzbandrisse weniger, aber ich bereue das nicht und bin fein damit. Ich finde es aber schön, wie die Situation aktuell für die Mädels ist. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde, ich will unbedingt in derselben Situation sein. Das müsste man dann ja für alle Perspektiven des Lebens bedenken.

Stimmt, es gibt mehrere Ebenen dieser Frage. Die Professionalisierung schreitet voran, die Strukturen sind besser, es gibt mehr Geld, die Aufmerksamkeit ist größer.

Zur Person

Nia Künzer (*1980) ist eine ehemalige Fußball-Nationalspielerin. Sie erzielte das Golden Goal zum Weltmeister-Titel 2003 und spielte zehn Jahre beim internationalen Topklub 1. FFC Frankfurt (heute Eintracht Frankfurt), mit dem sie je siebenmal Deutsche Meisterin und Deutsche Pokalsiegerin sowie dreimal UEFA-Cup-Siegerin wurde. In ihrer Karriere erlitt sie vier Kreuzbandrisse. Seit 2006 arbeitet sie als Expertin für die ARD. Im Hauptberuf ist sie Dezernatsleiterin im Regierungspräsidium Gießen in der Abteilung Flüchtlingsangelegenheiten, Erstaufnahmeeinrichtung und Integration.

Aber es betrifft ja auch andere Situationen des Lebens. Dann müsste man ja immer mit jemandem tauschen wollen, aber so denke ich gar nicht. Ich merke häufiger, wie wertvoll diese Zeit war, bei vielen Begegnungen und wenn wir die Jubiläen haben. Das war mir früher schon bewusst, aber der Wert, wenn man die Personen wiedertrifft… Das war schon alles gut und hatte vielleicht auch was für sich, dass noch nicht alles so professionell war. Das hat andere Dinge unbefangener gemacht. Aber natürlich ist es super, dass es sich so entwickelt hat. Ich hoffe, dass die Mädels es genießen können.

Ihr Golden Goal im WM-Finale liegt bereits 20 Jahre zurück. Danach lag die Aufmerksamkeit voll auf Ihnen. Wie sind Sie damit umgegangen?

Es ist so, dass die Verhältnismäßigkeit nicht passte. Ich war vorher auch schon bei den Fans bekannt, wir hatten 2002 mit Frankfurt bereits das Triple geholt. Aber in der Dimension war das insgesamt neu, wie das WM-Finale wahrgenommen wurde. Ich habe im gesamten Turnier ungefähr 90 Minuten gespielt, es gibt Spielerinnen, die das komplette Turnier gespielt haben - die Aufmerksamkeit nach dem Finale zu steuern, war für mich nicht möglich. Ich bin da so mitgeschwommen, das hat mir und auch anderen die Unbefangenheit genommen, miteinander umzugehen. Das war ein bisschen viel auf einmal.

"Warum Frauen den besseren Fußball spielen", heißt der Titel Ihres Buches, das Sie mit ARD-Sportkommentator Bernd Schmelzer herausgebracht haben - das ist sehr provokant.

Naja, sehr provokant nicht. Aber klar, es ist ein bisschen provokant gemeint. Man hätte auch vom "ehrlicheren Fußball" sprechen können, aber der Titel stimmt ja auch, man kann ihn eben weit auslegen.

Was meinen Sie, warum "besser", warum "ehrlicher"?

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Es ist so, dass sich die Art zu Spielen anders darstellt, die Art der Kommunikation auf dem Platz, das Interagieren, was den Sport ausmacht, das Fairplay. Natürlich gibt es Gelbe und Rote Karten, aber ich denke, das ist alles in einem sportlichen Rahmen. Das betrifft auch alles Drumherum, wie die Mädels im Leben stehen, auch stehen müssen. Sie präsentieren sich sportlich und von der Einstellung und Leidenschaft her auf einem wahnsinnig hohen Niveau.

Da sind wir schon mittendrin im Vergleichen mit dem Männerfußball. Was antworten Sie Leuten, die immer Unterschiede herauspicken wollen, gehen Sie überhaupt noch auf solche Gespräche ein?

Sobald es um die Themen Schnelligkeit und Physis geht, ist das ja sehr leicht zu erklären. Aber ich werde nicht mehr allzu häufig darauf angesprochen. Was ich noch nie gemacht habe, ist mich zu rechtfertigen. Ja, das Spiel ist vielleicht etwas langsamer, das hat dann aber auch Vorteile in anderen Bereichen. Ich antworte gerne, ich unterhalte mich gern über Fußball, aber für Rechtfertigung gibt es keinen Anlass, wie in so vielen Bereichen des Lebens. Aber natürlich wollten wir diesen Reflex auch etwas provozieren, anregen darüber nachzudenken.

Nun streben viele Verantwortliche im Fußball danach, den Sport der Frauen in dieselbe Richtung zu treiben wie den der Männer. Ist das fatal?

Das wird natürlich spannend. Grundsätzlich sind wir noch sehr, sehr, sehr weit davon entfernt. Das sage ich, weil viele Angst haben, wir werden der Männerfußball 2.0. Ich finde es lustig, dass es so gezeichnet wird, als würde alles so wie bei den Männern, in drei Tagen gehen sie alle nach Saudi-Arabien. Davon sind wir weit entfernt, wir reden derzeit davon, dass Frauen jetzt in der Lage sind, professionell Fußball spielen zu dürfen. Natürlich haben sie die Möglichkeit, andere Wege zu gehen - das ist meine Hoffnung. Nicht um jeden Preis höher, schneller, weiter. Das bedeutet aber auch, nicht jeden Sponsorenvertrag einzugehen, nicht jede Partnerschaft anzunehmen.

Um im Vergleich zu bleiben, sieht man bei den Männern aber auch, manche Entscheidung zurückdrehen zu wollen. Da werden Partnerschaften aufgelöst, da wird die Nähe zur Basis und zum Publikum wieder gesucht, etwa mit öffentlichen Trainings. In manchen Bereichen versucht man schon, die überdrehte Hatz zurückzuholen. Von daher bleibe ich optimistisch, dass man nicht in allen Bereichen danach strebt, zu werden wie der Männerfußball. Und nochmal: Wir sind schon noch ein Stück entfernt von den Prozessen, die da abgehen. Wir reden von einer Bundesliga, in der es bei einigen Teams sehr professionell zugeht, aber bei anderen auch noch sehr einfach. Natürlich muss man gucken, dass der Gap nicht zu groß wird. Etwa im Vergleich, wie die Nationalmannschaft reist und ihren Staff aufstellt, das haben vielleicht drei, vier Mannschaften - und dann gibt es die letzten drei, vier, fünf Teams der Liga.

Sie haben als Dauerrivalin in Diensten Frankfurts die Goldenen Zeiten von Turbine Potsdam miterlebt. Nun ist der Klub aus der Bundesliga abgestiegen, mit der SGS Essen verbleibt nur noch ein reiner Frauenklub in der höchsten Spielklasse.

Die Entwicklung war schon länger absehbar. Nicht, dass ich mir das unbedingt wünsche, weil ich eine besondere Beziehung zu Potsdam habe. Aber vielleicht war das ein Preis, den man zahlen musste. Ich habe bei Frankfurt mit der Fusion zu Eintracht Frankfurt, wenn auch nicht mehr als Aktive, miterlebt, dass es alternativlos wurde. Allein als FFC wettbewerbsfähig zu bleiben, das konnte ich mir immer schwerer vorstellen und Potsdam und Essen erleben das nun auch.

Kommen wir auf die Fans zu sprechen. Bei den Spielen der Frauen, sowohl in der Bundesliga als auch beim DFB, ist die Atmosphäre familiärer, sind mehr Kinder zu sehen. Hat das gesellschaftliche Auswirkungen?

Nun, beim Pokalfinale waren viele Freiburger Fans, vielleicht sogar Ultras, das weiß ich nicht, die sonst eher zu den Männern gehen. Da war die Unterstützung da. Aber insgesamt stimmt es, sind die Fans bunter gemischt, vielfältiger. Das hat bestimmt mit der Zusammensetzung insgesamt im Männerfußball zu tun, da fehlt die Vielfalt, die in anderen Bereichen der Gesellschaft schon normal ist. Sowohl im Publikum, wobei da inzwischen schon viele Frauen dabei sind, als auch in den Vereinsstrukturen. In vielen Bereichen ist der Männerfußball innovativ und Vorreiter, aber in manchen Bereichen hinkt er hinterher.

Können Sie das konkretisieren?

Beim Thema Vielfalt sind andere gesellschaftliche Bereiche deutlich weiter, bei der Besetzung von Gremien, bei Führungspositionen. Da geht es in anderen gesellschaftlichen Bereichen deutlich diverser zu.

Im Buch schreiben Sie darüber, dass die für Deutschland so schlecht gelaufene WM in Katar sogar von Vorteil für die Frauen war. Wie meinen Sie das?

Das hat nichts mit Schadenfreude zu tun. Aber sicherlich wurde das Turnier, wurden die Sportler, überfrachtet mit politischen Themen. Das ganze Turnier war aus deutscher Sicht vermurkst, hat die Leichtigkeit und Emotionen verloren, die es braucht, wenn es um eine Weltmeisterschaft geht und auch noch eine deutsche Mannschaft teilnimmt. Es gab eben nicht mehr die Konzentration aufs Sportliche, die Emotionen, die Leidenschaft, sondern man hat das Gefühl gehabt, diese ganze Stimmung hat sich auch bei der Mannschaft niedergeschlagen, sie wurde teilweise überfrachtet. Naja, das ist kein Grund, dass es sportlich nicht gelaufen ist, aber insgesamt ist die Katar-WM in Deutschland sehr negativ angekommen. Davor stand eben die positive EM der Frauen.

Der Sportliche Leiter des DFB, Joti Chatzialexiou, hat jüngst gesagt, er wünsche sich, dass die Frauen den Fußball in Deutschland "wachküssen". Ist das wirklich die Aufgabe des DFB-Teams jetzt bei der WM?

Die Aufgabe ist, sportlichen Erfolg zu haben! Unabhängig davon, wie das restliche Geschehen ist. Die Frauen würden sich, glaube ich, sehr freuen, wenn es auch bei den Männern gut laufen würde, das darf man nicht gegeneinander ausspielen. Aber es wäre natürlich schön, wenn die Frauen erfolgreich sind und mit Blick auf die Heim-EM 2024 insgesamt eine positivere Grundstimmung herrscht.

Ich bin daran interessiert, dass alle deutschen Nationalteams erfolgreich sind, und ehrlicherweise muss man sagen, dass die Männer-Mannschaft erfolgreich sein muss, weil die finanzielle Situation des DFB ganz stark davon abhängig ist. Das ist Teil der Wahrheit. Die Mittel, die dort generiert werden, wenn die Männer ein starkes Turnier spielen, kommen dem Frauen-Bereich zugute, dem Amateur-Bereich, dem Breitensport, dem Kinder- und Jugendsport. Das, was mit der Frauen-WM generiert wird, selbst wenn es eine erfolgreiche wird, reicht nicht aus, um die Grundlagen des DFB stabil zu halten. Auch was der DFB im gesellschaftlichen Bereich macht, über Stiftungen und und und … ein Erfolg der Männer-Nationalmannschaft ist schon wichtig.

Spätestens 2011 mit der Heim-WM waren die Frauen schon einmal auf dem Weg dahin, dass sie mehr Relevanz erhalten. Das ist dann mit dem Aus im Viertelfinale ziemlich verebbt, selbst der Olympiasieg 2016 konnte keinen nachhaltigen Hype entfachen. Wie wichtig ist es, dass es diesmal endlich klappt? Das haben sich Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg und ihre Spielerinnen im vergangenen Jahr schon so gewünscht.

Ich glaube, so entscheidend ist die WM nicht, ich bin optimistisch, dass die Nachhaltigkeit diesmal schon klappt, unabhängig vom sportlichen Erfolg. Aber die Dimension ist, je nach Abschneiden, eine andere. Denn es ist ja klar: Jede Sportart braucht, unabhängig von anderen Dingen, den sportlichen Erfolg, um sich zu positionieren. Aber zu 2011 sehe ich schon einen Unterschied. Das war ein tolles Turnier, mit starkem Zuschauerzuspruch, aber es war auch gepusht und zu schnell zu groß geworden. Das war nicht gesund gewachsen. Man hat es auch an den Spielerinnen gemerkt, dass diese extreme Situation eher eine Last als eine Motivation war. Ich sehe da jetzt einen Unterschied. Es ist keine Heim-WM und die Spielerinnen sind da mehr reingewachsen, vor allem die Blöcke Wolfsburg, Bayern, Eintracht können mit dieser Erwartungshaltung besser umgehen und es ist gesünder gewachsen, sodass ich hoffe, dass der sportliche Erfolg sie nochmal mehr pusht.

Sie erwarten also keinen erneuten Einbruch?

Ein Ausscheiden in der Gruppenphase wäre eine Katastrophe. Nichtsdestotrotz würde die Bundesliga weiter existieren und sich weiterentwickeln, denn Partnerschaften, TV-Verträge sind eingetütet worden. Aber natürlich würde ein Halbfinale oder Finale einen enormen Schub geben.

2011 hat man gedacht, es wäre ein Selbstläufer. Man hat gedacht, es würde immer so weitergehen, vielleicht war aber auch nicht die Ernsthaftigkeit da oder sie ist wegen des sportlichen Abschneidens nicht gekommen. Was ich jetzt sehe, ist, dass die Ernsthaftigkeit von vielen Akteuren da ist. Das ist kein Selbstläufer, das ist harte, koordinierte Arbeit und die hat in der Vergangenheit gefehlt. Und natürlich ist es so, dass auch ein, zwei wirtschaftliche Akteure erkannt haben, dass es wirtschaftliches Potenzial gibt und, wenn es das noch nicht gibt, zumindest ein Image-Potenzial da ist. Die Unternehmen werden ein Potenzial daraus ziehen, vielleicht neue Märkte, neue Zielgruppen erschließen, es wird einen wirtschaftlichen Wert haben.

Abschließend: Wie wird die WM für die DFB-Frauen laufen?

Ich würde mir wünschen, dass das Halbfinale drin ist, wobei es natürlich sehr schwer wird. Ab dem Achtelfinale gibt es, wie der Name schon sagt, nur noch Finals. Schon dann geht es vielleicht gegen Frankreich oder Brasilien. Die Gruppenspiele werden nicht immer ein Spektakel werden, das kann sehr viel Geduld kosten. Aber klar, es muss der Anspruch sein, sich als Gruppenerster zu qualifizieren.

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Vielleicht braucht es noch Zeit im Turnier, sich sportlich und als Team zu entwickeln, das wird spannend zu sehen, wie die Mannschaft mit Rückständen oder unerwarteten Situationen umgeht. Wie findet sich die deutsche Blase zusammen, klar, die meisten waren im vergangenen Jahr dabei, aber Almuth (Schult, Torhüterin, derzeit schwanger, Anm.d.Red.) ist nicht dabei, sie ist eine wichtige Persönlichkeit in der gesamten Struktur. Kommen sie in einen Flow, in eine Dynamik? Man kann nicht sagen, wir machen alles gleich wie bei der Europameisterschaft, so funktioniert das nicht. Es muss sich neu entwickeln.

Mit Nia Künzer sprach Anja Rau

Quelle: ntv.de

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