Mentalität, Maloche - Meister? Beseelter BVB verliebt sich in Coach Terzic
07.08.2022, 06:51 Uhr
Kritischer Blick nicht nötig: BVB-Coach Edin Terzic kann zufrieden sein mit der kämpferischen Leistung seines Teams.
(Foto: dpa)
Der FC Bayern legt beeindruckend vor, Borussia Dortmund zieht kämpfend nach. Die Titelrivalen erleben ganz unterschiedliche Spiele zum Auftakt der neuen Bundesliga-Saison. Aber der BVB berauscht sich durchaus daran, nun die Maloche zum Kernthema zu machen.
Ein paar Pfandsammler hatten sich am Samstagnachmittag vor dem Dortmunder Hauptbahnhof aufgebaut. Sie wollten von der neuen Euphorie in der Stadt profitieren. Die Strahlkraft des BVB versprach ihnen ein gutes Geschäft. Da standen sie also nun, in Schwarzgelb und unterstützten lautstark den Gesang vom Band. "Borussia schenk' uns die Schale, schenk' uns die Schale im Mai." Die Sehnsucht nach der Meisterschaft ist gewaltig in der Ruhr-Metropole. Traditionell. Aber vor dieser Saison noch ein bisschen mehr. Denn "Kumpel Edin" (Anmerk. d. Red.: der neue BVB-Trainer ist Edin Terzic) ist zurück auf Schicht. Und der sehenswerte Sieg gegen den TSV 1860 München im DFB-Pokal hatte die Vorfreude auf das erste Bundesliga-Auftaktspiel mächtig getriggert.
Zu Gast war Bayer Leverkusen. So ein Bruder im Geiste. Denn auch die Werkself verfolgt traditionell große Ziele und muss sich am Ende eingestehen, dass es wieder einmal nicht geklappt hat. In dieser Saison ist die Meisterschaft zwar nicht das ausgelobte Ziel, aber auch kein Tabu-Thema. Bayer berauscht sich an seinem starken Kader, der in diesem Sommer keine nennenswerte Qualität verlor und mit Adam Hlozek noch um ein Top-Talent verstärkt worden war. Und wie berechtigt das Vertrauen des Vereins in seine Spieler ist, das hinterlegten sie vor 81.135 Zuschauern im ausverkauften Signal-Iduna-Park. Zwar ging das extrem intensive Duell mit dem BVB 0:1 (0:1) verloren, Marco Reus stocherte den Ball, den der später verletzt ausgewechselte Karim Adeyemi punktgenau dorthin platziert hatte, nach zehn Minuten über die Linie, aber gerade in Halbzeit zwei war die Mannschaft phasenweise drückend überlegen, verpasste lediglich ein Tor.
Chancen dazu gab's mehrere. Sogar allerbeste. Doch Stürmer Patrik Schick, der in Abwesenheit (weil Wechsel) von Erling Haaland und Robert Lewandowski der Topkandidat auf die Torjägerkrone ist, scheiterte allein zweimal aus den besten Positionen an BVB-Keeper Gregor Kobel. In anderen Momenten warfen sich die Schwarzgelben dazwischen, stemmten Beine und Körper in die wilden Abschlüsse der Leverkusener. 11 Malocher müsst ihr sein! Und 11 Malocher waren sie.
Im größten Fußball-Tempel des Landes wurde die Leidenschaft zum höchsten Gut, während der Fußball eher zur Nebensache geriet. Zumindest die schöne, schnelle und zielstrebige Form davon. Aber zufrieden waren sie. Auf den Rängen, auf dem Rasen. Und dort unten betonten sie, wie sehr diese Begeisterung und Gier mit Terzic zusammenhängen würde, der wie ein Tiger im Tempel auf- und abmarschierte. Von der Seitenline zur Bank und zurück. Der ständig klatschte und motivierte. "Das ist ein großer Schritt nach vorne. Wir haben unglaublich hart gearbeitet, mussten in der zweiten Halbzeit leiden, haben gekämpft, gekratzt, gebissen", sagte Sportdirektor Sebastian Kehl bei Sky: "Es lief sicher noch nicht alles rund, aber das war das, was die Menschen hier sehen wollen." Und endlich stand mal wieder die Null. Eine Rarität in der vergangenen Saison, auf der eine schwer lähmende Melancholie - wie eine Droge, die einen miesen Trip verursacht - lastete, aus der die Borussia getrottet und getrottelt war.
"Lasst uns so hungrig sein, wie noch nie"
Für Marco Rose war nach nur einer Saison Schluss. Der Trainer kam nie in Dortmund an. Er sortiert sich in eine lange Reihe von Fachangestellten um unter anderem Thomas Tuchel, Peter Bosz und Lucien Favre ein, die zwar über ein herausragendes Knowhow verfügen, aber nie die Herzen dieses ultraemotionalen Klubs eroberten, der so sehr von der bedingungslosen Liebe seiner Fans getragen wird. Und die waren bereit, zu verzeihen. Sie waren bereit, ihren Jungen, den Edin, der einst selbst ein Kind der Kurve war, wieder gebührend zu empfangen. Endlich im vollen Wohnzimmer. In voller Dröhnung. Den donnernden Druck der Tribünen, den kannte der Trainer noch nicht. Seine erst (Interims)-Chef- war Pandemiezeit. Terzic und die Fans, die sprechen eine Sprache. Eine einfache, es ist die Sprache des Reviers. Die Sprache der Malocher. Bei seiner Vorstellung sagte er: "Lasst uns so hungrig sein, wie noch nie, lasst uns so hart arbeiten, wie noch nie. Lasst uns aber auch so positiv sein, wie noch nie. Und am allerwichtigsten: Lasst uns so laut sein, wie noch nie." Worte fürs Herz.
Worte, auf denen gegen Leverkusen Taten folgten. Die Dortmunder Mannschaft, die in den vergangenen Jahren immer wieder mit der zermürbenden Mentalitätsfrage konfrontiert war und diese teilweise mit Schimpftiraden konterte, rannte, kämpfte und grätschte. Selbst Marco Reus führte Defensiv-Zweikämpfe mit einer bislang nicht bekannten Verve. Terzic freute das. An der Linie ballte er die Faust, wenn das rustikale Element Erfolge brachte. Schön war das Spiel der Borussen nicht. Klar, eine gute Phase zwischen der 5. und 25. Minute, die gab es, aber das Talent, was in der kreativen Offensive schlummerte, strahlte eher grau als schwarzgelb (in Dortmund ist das das Synonym für strahlend). "Manchmal ist es nicht möglich, mehr Tore zu schießen als eins - dann muss man in der Lage sein, die Null zu verteidigen, um die drei Punkte mitzunehmen." Und die Art und Weise, wie seine Mannschaft das getan hatte, die stimmte ihn "positiv", sagte Terzic. Er sprach klar, aber schnell, irgendwie immer noch berauscht von seinem ersten Chefspiel vor diesem beeindruckenden Auditorium.
Als Belohnung durfte sich das gepimpte Starensemble im Malocherhemdchen die Liebesgrüße von der Südtribüne abholen. Dort stehen die Treuesten der Treuen. Schon während des Spiels hatten sie das perfekte Gespür für die Bedürfnisse der Mannschaft, hoben die Lautstärke an, wenn die Mannschaft wackelte. "Die Zuschauer haben uns in einigen Situationen getragen. Die extra Prozent, um alles zu geben, kamen von den Rängen und das ist hervorragend", staunte und lobte Terzic.
Die Fans geben diesem Team einen sehr großzügigen Kredit. Das Portal "schwatzgelb.de" hatte vor der Spielzeit sogar versichert, dass die Fans in schwierigen Phasen, die "Füße stillhalten" werden. Für Edin. Das Vertrauen in ihn ist gigantisch. Die Sehnsucht, dass da endlich einer ist, der die ewig lastende Jürgen-Klopp-Wolke wegschiebt noch gigantischer. Ein Mann für Erfolg und Volk. Und die Fans hatte ihre große Lust auf den neuen BVB vor dem ersten Liga-Anpfiff durch die Straßen der Stadt getragen. Vom "Alten Markt" zog sich der schwarzgelbe Lindwurm durchs Klinikviertel zum Stadion. Mehrere Tausend liefen mit, grölten mit, freuten sich auf das, was nun kommt - und blieben dabei anständig. So wie es die Ultra-Gruppe "The Unity" ausgerufen hatte.
Kommt jetzt Cavani?
Was nun kommt? Intensive Arbeit. Viele Themen hatte der neue alte Trainer gesehen, der mit dem BVB als Interim in der Saison 2020/21 den DFB-Pokal gewonnen hatte. Etwa den geordneten Spielaufbau. Unter Druck wirkte nur Jude Bellingham über 90 Minuten stabil. Der 19 Jahre alte Engländer ist das größte Phänomen und Talent im Kader. Er reißt das Spiel an sich, mit Dribblings, mit verschärfenden oder beruhigenden Zuspielen, aber auch mit Tacklings. Seine Emotionen müsse er noch ein wenig besser kontrollieren, sagt Terzic, sonst gehe es bei seinem dritten Kapitän nur noch darum, auszuloten, wo seine Grenze ist. Aktueller Verdacht: Es gibt sie nicht.
Was kommt noch? Ein neuer Stürmer vermutlich, wie Sportvorstand Sebastian Kehl recht klar bekannte. Eine Top-Lösung scheint nun plötzlich realistisch: Edinson Cavani. Über den Uruguayer sagte Terzic vor dem Anpfiff: "Über ihn muss man nicht viele Worte verlieren. Wenn man seine Qualität sieht und die Stationen - ein herausragender Stürmer. Wichtig ist, dass wir die richtige Lösung finden, die zu uns passt."
Für das Spiel gegen Bayer wollte der BVB "erstmal eine interne Lösung finden". Sie hieß Youssoufa Moukoko. Das Tor von Reus bereitete er prima mit vor. Das einstige Wunderkind arbeitete viel für die Mannschaft und gegen den Ball. Mit dem Ball tat er sich schwerer. Ein paar Mal drehte er sich schön auf und wenn er Tempo aufnehmen konnte, wurde es gefährlich. Aber als Zielspieler prallte er an den Hünen Jonathan Tah und Edmond Tapsoba allzu oft ab. Wie die Römer einst an Obelix' Bauch.
In Abwesenheit des krebskranken Sebastien Haller braucht der BVB tatsächlich noch einen Brecher vorne drin, um die Ziele national und international möglichst lange in erreichbarer Nähe zu halten. Ob die Meisterschaft wirklich in greifbaren Dimensionen ist? Der Auftritt des FC Bayern bei Eintracht Frankfurt (6:1) hat diesbezüglich Fragen aufgeworfen. Die erste Antwort des BVB: nach Punkten und Siegen gleichgezogen - nach groteskem Spektakel nicht.
Alarm wegen eines Polizeieinsatzes
Aber um dieses Thema macht Terzic einen gewaltigen Bogen. Er tut gut daran. Am 1. Spieltag ist noch niemand Meister geworden. Ebenfalls ist am 1. Spieltag noch niemand aus dem Titelrennen gefallen, wenn er ernsthafte Ambitionen hegte. Konstanz ist das Stichwort. Und Konzentration. Die galt an diesem Samstagabend kurzzeitig nicht dem Spiel. Eine knappe halbe Stunde beschäftigte eine Ansage der Polizei die Zuschauer. Die Bitte der Beamten war, das Stadion auch nach Schlusspfiff nicht zu verlassen. Es gebe einen entsprechenden Einsatz im Umfeld der Arena. Ein Auto mit laufendem Motor war auf einem Parkplatz entdeckt worden.
Wie ein Sprecher der Polizei ntv.de rund eine Stunde nach Spielende erklärte, sei die Situation "bereinigt", nicht aber geklärt. Weitere Ermittlungen stünden noch aus. Später am Abend hieß es: "Zwei leere Holster für Schusswaffen" seien im Innenraum des Wagens gefunden worden. "Im Rahmen der weiteren Überprüfung konnte der Halter, der gleichzeitig auch der Fahrer des Fahrzeugs war, ermittelt und im Stadion angetroffen werden. Er wurde in Gewahrsam genommen und befragt. Alle Gefahrenmomente konnten ausgeräumt werden." Der Besitzer sei Inhaber "eines kleinen Waffenscheins". Die Zuschauer hatten das Stadion da längst wieder verlassen.
Aber sie werden wiederkommen. Wegen des BVB. Und wegen Edin. Am Bahnhof hatten sich die Pfandsammler spät am Abend verzogen. Die Meistergesänge verstummt. Die Euphorie geerdet. Aber die Menschen in ihren schwarzgelben Trikots, sie waren glücklich. Die ehrliche Arbeit ist zurück in der alten Industriestadt. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. "Wenn am Ende der Saison eine Mannschaft in einem Wettbewerb besser ist als wir, dann müssen und werden wir das akzeptieren", sagt Terzic. "Was wir aber nicht akzeptieren werden ist, wenn jemand hungriger ist als wir, oder fleißiger. Daran werden wir die Mannschaft in jedem Training erinnern."
Quelle: ntv.de